Meinung

Koalition für Kinder


von Christian Schneider

Wenn es um Kinder in Deutschland geht, herrscht – je nachdem, wo man sich befindet – entweder „Alarmstimmung“ oder ein „Schönwettergefühl". Da wurde im Wahlkampf auf der einen Seite eine wachsende Verelendung beklagt. Auf der anderen, hieß es, dass es den meisten Kindern bei uns doch ziemlich gut gehe.

Ein Mädchen in der Arche in Berlin Hellersdorf © UNICEF DT/2012/Liesa Johannssen

Ein Mädchen aus Berlin Hellersdorf in der "Arche". Hier wird täglich ein Mittagstisch für Eltern und Kinder angeboten.

© UNICEF DT/2012/Liesa Johannssen

Vielleicht ist diese Polarisierung ein Grund dafür, dass man aus den langen Sondierungsrunden und den gestern begonnenen Koalitionsgesprächen zum Wohlergehen der Kinder in unserem Land bislang kaum etwas hört.

Große Koalitionen sollen große Probleme anpacken, so wird oft gesagt. Die Gefahr besteht aber auch, dass Themen ausgesessen werden, wenn man sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner einigen kann.

Kinder in Deutschland: die Abgehängten

Die Befunde aus dem neuen UNICEF-Bericht zur Situation der Kinder in Deutschland, den wir heute in Berlin vorstellen, zeigen aber deutlich: Es ist an der Zeit, mehr gerade für die Kinder zu tun, die abgehängt werden.

Zwischen 2000 und 2010 haben rund 8,6 Prozent unserer Kinder und Jugendlichen langjährige Armutserfahrungen gemacht. Die meisten (6,9 Prozent) lebten zwischen 7 und 11 Jahre lang in einem Haushalt, der mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen musste. 1,7 Prozent wuchsen sogar 12 bis 17 Jahre unter diesen Bedingungen auf. Wenn man diese Zahlen auf die heutige Situation bezieht, sind dies rund 1,1 Millionen Mädchen und Jungen!

Sie haben ein Recht auf Teilhabe, auch wenn es ihnen oft an Geschmeidigkeit in der Schule fehlt. Sie dürfen nicht aufgegeben werden, auch wenn sie selbst wenig Zutrauen haben, dass sie es schaffen können. Das Leben war für sie oft von klein an eine Aufholjagd mit schwerem Gepäck. Die anderen Kinder waren deshalb meist schneller.

Kinderarmut kostet Zukunft

In der neuen Legislaturperiode muss endlich ein Angang gefunden werden, um die Teilhabechancen der Kinder zu verbessern, die es besonders schwer haben. Kinder, deren Eltern lange arbeitslos sind. Die allein bei ihren Müttern – und seltener – ihren Vätern aufwachsen. Deren Familien vielleicht mit Vielem überfordert sind und ihnen bei Problemen in der Schule nicht weiterhelfen können.

Weil jedes Kind ein Recht auf diese Chance hat, muss die Politik entschiedener gegen Kinderarmut vorgehen. Es wäre ein großer Fortschritt, wenn sich Bund, Länder und Gemeinden darauf verständigen würden, zum Beispiel den Anteil der Kinder, die lange Armutsphasen durchleben müssen, in den nächsten vier Jahren zu halbieren.

Nur, was man misst, kann man auch erreichen. Ein solches politisches Ziel wäre konkret und überprüfbar – und es wäre ein klares Bekenntnis, dass diese Kinder nicht aufgegeben werden.

Kein Kind zurücklassen

Es gibt viele Modellprojekte, die zeigen, wie benachteiligte Familien besser begleitet werden können. Was wir brauchen, sind aber nicht nur Modelle, sondern auch eine breite Praxis, in der Schule, Jugendhilfe und Gemeinden eng zusammenarbeiten.

Vielleicht müssen wir sogar eine Diskussion über eine andere Art von „Ungerechtigkeit“ führen. Felix Berth vom Deutschen Jugendinstitut plädiert etwa in seinem Beitrag in unserem UNICEF-Bericht für eine „kluge Ungleichbehandlung“: Die „besten Lehrer“ und die „besten Schulen“ müssten eigentlich in den „schwierigsten“ Stadtteilen sein.

Ist das bei uns allen zu Hause schon mehrheitsfähig?
Für jedes einzelne Kind, das so seinen Weg in unsere Gesellschaft, in eine verantwortliche Rolle findet, müssen wir uns dieser Diskussion stellen. Wir brauchen eine Koalition für die Kinder.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.