Meinung

Aleppo, Prüfstein der Menschlichkeit


von Christian Schneider

Was würden Sie als Erstes tun, wenn Sie 48 Stunden Zeit hätten? Jeder von uns hat eine Liste an der Pinnwand oder im Kopf, hat Dinge, die dringend, aber meistens später, erledigt werden müssen, in der Wohnung, im Garten, auf dem Schreibtisch.

Was würden Sie aber tun, wenn Sie 48 Stunden Zeit hätten, um das Leben Ihrer Familie und Ihr eigenes zu retten?

Auf diese Frage ist niemand eingestellt. Aber sie bewegt in diesen Stunden Hunderttausende verzweifelte Menschen in Aleppo.

48 Stunden Zeit, Überleben zu organisieren

Aleppo, Syrien: zwei kleine Jungs in den Trümmern der zerstörten Stadt
© UNICEF/UN013175/Al-Issa

Seit gestern Abend hoffen die Mütter und Väter, die mit ihren Kindern in der geschundenen Stadt zu überleben versuchen, dass eine Feuerpause von zwei Tagen nicht nur versprochen, sondern Wirklichkeit wird.

Zwei Tage, jede Woche. Wenn es gut läuft, schweigen bald für die ersten 48 Stunden die Waffen, werden keine Bomben vom Himmel fallen, keine Artilleriegeschosse einschlagen und noch mehr Leben von Zivilisten auslöschen.

Noch ist es nicht so weit. Vielleicht gibt es bis zum Beginn der Feuerpause wieder tödliche Einschläge in Schulen oder Krankenhäuser, legen Scharfschützen auf spielende Jungen und Mädchen an, verbluten Opfer, weil es keine Ärzte mehr gibt, oder auch nur sauberes Verbandszeug.

Verstörte Kinder, so haben wir es gehört, werden wieder anfangen zu singen oder zu tanzen, wenn die Flieger heranrasen – weil die Attacken schlicht zu viel für sie sind, um noch „normal“ – was für ein Wort – auf die Gefahr reagieren zu können.

Dennoch werden die Menschen in Aleppo einmal durchgeatmet haben. Viele werden es nicht glauben. Wenn es still werden sollte am Himmel über Aleppo, wird das eine irreale Ruhe sein, eine Pause eben inmitten des Feuers. Aber es wird die wichtigste Pause sein, die es zurzeit auf diesem Planeten geben kann.

Die Nachricht kam gestern, als die Welt angesichts der Aufnahmen des fünfjährigen Omran für einen Moment wie in Schockstarre auf das Grauen in Syrien schaute. Blutend, verstört, aber lebend saß der kleine Junge nach dem verheerenden Luftangriff im Rettungswagen.

Das Leid der Kinder muss die Welt aufwecken

Solche Bilder sind unerträglich. Niemand sollte sie sehen müssen, am wenigsten die Kinder selbst. Aber sie zeigen: Aleppo ist zum Prüfstein der Menschlichkeit geworden.

Unsere UNICEF-Mitarbeiter in Aleppo haben sich seit Tagen vorbereitet, wie sie die 48 Stunden Feuerpause nutzen wollen, um endlich wieder mehr Menschen zu erreichen. Als eine der wenigen internationalen Organisationen, die dort und im restlichen Syrien noch im Einsatz sind, haben sie in den letzten Wochen alles versucht, die zerbrechliche Rettungsleine der Trinkwasserversorgung aufrecht zu erhalten.

Syrien-Bürgerkrieg: Ein Mädchen in Aleppo erhält sauberes Wasser.

Ein Mädchen in Aleppo, Anfang August: UNICEF hat sauberes Trinkwasser für Hunderttausende bereitgestellt - doch noch viel mehr brauchen dringend Hilfe.

© UNICEF/Khuder Al-Issa

UNICEF-Einsatz: Trinkwasser für Hunderttausende

Im Westteil von Aleppo organisieren sie mit ihren Partnerorganisationen Tanklastwagen, die etwa 300.000 Menschen mit Wasser versorgen. Ich kann nur ahnen, was das in der Hitze des Sommers, im Staub zwischen den Ruinen für die Bevölkerung bedeutet. Darunter sind auch 35.000 Menschen, die vor den letzten Gefechten aus dem Ostteil Aleppos fliehen mussten und jetzt in Moscheen, Parks oder schlicht auf der Straße überleben, aber immerhin leben.

Zu den wichtigsten Aufgaben wird etwas gehören, das unspektakulär klingt, aber für Hunderttausende das Überleben sichern kann, und zwar ein Überleben mit etwas mehr Würde. Es geht darum, die immer wieder unterbrochene Stromversorgung für die Wasserpumpstationen so schnell wie möglich wiederherzustellen. Lager mit Medikamenten, Nahrungsmitteln und Hygieneartikeln müssen rasch aufgefüllt werden. Sie ahnen es: Die UNICEF-Liste für diese ersten 48 Stunden, in denen wir hoffentlich ungehinderten Zugang haben können, ist noch so viel länger.

Heute ist für 24 Stunden der „Welttag der Humanitären Hilfe“. Dringlicher könnte der Appell nicht sein, heute und morgen und in den kommenden Wochen. Es ist deshalb ganz wichtig, dass die öffentliche Aufmerksamkeit und der Druck auf alle Kriegsparteien und ihre Verbündeten aufrecht erhalten bleiben. Setzt ein Zeichen der Menschlichkeit. Verhindert das stille Sterben der Kinder.

Bitte helfen Sie - spenden Sie jetzt für medizinische Versorgung, Trinkwasser und Betreuung für Kinder in Not.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.