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Kinder weltweit

Bosnien und Herzegowina: Unterstützung für geflüchtete Kinder vor dem Aus?

 Seit vielen Jahren hilft UNICEF in Bosnien und Herzegowina Kindern, die ihre Heimat aufgrund von Krisen und Konflikten verlassen mussten. Wir sprachen mit unserer UNICEF-Kollegin Nancy Catherine Bauman darüber, wie es geflüchteten und migrierten Kindern im Land geht, wie UNICEF sie unterstützt und warum die Hilfe aktuell in Gefahr ist.


von Desirée Weber und Jenifer Stolz

Jedes Jahr werden viele Kinder – ob allein oder in Begleitung ihrer Eltern – durch Konflikte, Gewalt und andere Krisen aus ihrer Heimat vertrieben. Auf der Suche nach Schutz und Sicherheit begeben sich etliche Menschen auf den Weg nach Zentraleuropa. Eine Route führt dabei vom Nahen Osten über den Balkan. Auf der sogenannten westlichen Balkanroute müssen viele geflüchtete und migrierte Menschen Bosnien und Herzegowina passieren, um in die EU zu gelangen.

Wir wollten von Nancy Catherine Bauman, UNICEF-Kinderschutzexpertin in Bosnien und Herzegowina, mehr über die aktuelle Situation von geflüchteten und migrierten Kindern und die UNICEF-Arbeit im Land wissen.

Nancy Baumann
© UNICEF


Wie viele geflüchtete und migrierte Kinder leben derzeit in Bosnien und Herzegowina? Nehmen Sie einen Anstieg der Schutzsuchenden wahr?

Bauman: Ja, im Vergleich zum Vorjahr kamen 2022 mehr schutzsuchende Menschen nach Bosnien und Herzegowina. Während im dritten Quartal 2021 etwas mehr als 5.500 Menschen registriert wurden, waren es im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres knapp 9.120 Menschen. Im November lebten in den offiziellen Aufnahmezentren Borici und Usivak etwa 300 Kinder. Wir können dabei aber immer nur von einer Momentaufnahme sprechen.

Ein Mädchen lächelt in die Kamera

Das Aufnahmezentrum Usivak liegt im Kanton Sarajevo. Hier können auch Kinder wie dieses Mädchen untergebracht werden.

© UNICEF/UN0535344/Djemidzic

Warum?

Bauman: Die Fluktuation in den Aufnahmezentren ist hoch. Jede Woche kommen dort neue Kinder an – allein oder mit ihren Familien. Oft bleiben die schutzsuchenden Menschen jedoch nur kurz in den Aufnahmezentren, weil sie in die EU weiterreisen wollen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in den Aufnahmezentren beträgt zwei bis drei Wochen. Das ist leider nicht viel Zeit, um die Kinder mit dem zu versorgen, was sie brauchen.

Gibt es weitere „Trends“, die Sie derzeit beobachten?

Bauman: Ja, es gibt einige neue Entwicklungen, die uns Sorgen bereiten. So haben wir im vergangenen Jahr unter anderem einen deutlichen Anstieg bei der Ankunft von Mädchen beobachtet, die unbegleitet und von ihren Eltern getrennt waren. Zwischen Januar und Ende Dezember 2022 wurden 129 unbegleitete und unbegleitete Mädchen identifiziert. In den Vorjahren lag die Zahl bei bis zu zehn Mädchen pro Jahr.

Ein Kind im Aufnahmezentrum Usivak

Das Aufnahmezentrum Usivak verfügt über einen sogenannten kinderfreundlichen Raum, der von UNICEF unterstützt wird.

© UNICEF/UN0719059/Omerbegovic

Wie wirkt sich die steigende Zahl geflüchteter und migrierter Menschen in Bosnien und Herzegowina auf ihre Unterbringung und Versorgung aus?

Bauman: Obwohl die Zahl der Schutzsuchenden in Bosnien und Herzegowina zunimmt, kann die Unterbringung der Menschen derzeit sichergestellt werden. Die Aufnahmezentren sind noch nicht voll ausgelastet.

Für den Fall, dass die Zahl der unbegleiteten und von ihren Eltern getrennten Kinder, aber auch die Zahl der begleiteten Kinder die vorhandenen Kapazitäten übersteigt, werden derzeit Notfallpläne erarbeitet. Denn für den Fall eines größeren Zuzugs wie 2019/2020 gebe es nicht genügend angemessene Unterkünfte. Hinzukommt, dass es kaum alternative Unterbringungsmöglichkeiten für unbegleitete und von ihren Eltern getrennte Kinder gibt, die besonders schutzbedürftig sind, wie unbegleitete Mädchen, jüngere Kinder oder Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind.

Ein anderes Problem ist die hohe Fluktuation. Durch die schnelle Weiterreise der Menschen ist es schwierig, schutzbedürftige Personen zu identifizieren, wie zum Beispiel Kinder, die von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch bedroht sind oder diese erleben.

Wie ist aktuell die Situation an der Grenze zu Kroatien?

Bauman: Informationen anderer Organisationen zufolge ist die Zahl der Berichte über angebliche Zurückweisungen an der Grenze zurückgegangen und die Menschen können die Grenze leichter überqueren als in früheren Zeiten. Wir wissen jedoch, dass sich diese Situation auch schnell wieder ändern kann.

Ein Kind lernt mit Materialien von UNICEF | ©UNICEF/UN0469722/

UNICEF unterstützt geflüchtete und migrierte Kinder in Bosnien und Herzegowina beim Lernen.

© UNICEF/UN0469722/

Wie unterstützt UNICEF geflüchtete und migrierte Kinder in Bosnien und Herzegowina?

Bauman: In Bosnien und Herzegowina unterstützt UNICEF geflüchtete und migrierte Kinder durch unterschiedliche Maßnahmen. Unbegleitete Minderjährige werden in allen Unterkünften mit geschützten Wohnbereichen rund um die Uhr durch Partnerorganisationen von UNICEF betreut. UNICEF hat außerdem ein Netz von Sozialpädagog*innen geschaffen, die meist innerhalb weniger Tage nach Registrierung die Vormundschaft für unbegleitete Minderjährige übernehmen. Sie helfen den Kindern beispielsweise beim Zugang zu medizinischer Hilfe, klären die Kinder über ihre Rechte auf und unterstützen sie zum Beispiel auch bei Angelegenheiten rund um ihren Asylantrag.

UNICEF richtet zudem in den Aufnahmezentren kinderfreundliche Räume ein, in denen Kinder geschützt und sicher sind und in denen sie lernen und spielen können. Hier erfahren Kinder ein Stück Normalität und können einfach Kind sein. Gleichzeitig können in den kinderfreundlichen Räumen besonders gefährdete Kinder identifiziert und Hilfsangebote gemacht werden.

Außerdem bieten wir gemeinsam mit Partnern in den Aufnahmeeinrichtungen Sprachunterricht an oder Lernhilfe, aber auch kreative Kurse wie zum Beispiel Malunterricht. Die Kinder werden in den örtlichen Grundschulen unterrichtet und Kinder im Sekundarschulalter nehmen an Berufsbildungsprogrammen in Schulen teil.

Und wir unterstützen schwangere Frauen und Mütter mit jungen Kindern. Dabei geht es vor allem darum, mit den Frauen über Themen wie die Geburt, die Bedeutung des Stillens, eine gesunde Ernährung für Kinder oder während der Schwangerschaft zu sprechen.

In den kinderfreundlichen Orten könne geflüchtete Kinder mit Therapeut*innen ins Gespräch kommen.

In den kinderfreundlichen Orten – wie hier im Aufnahmezentrum Usivak – können geflüchtete und migrierte Kinder nicht nur spielen, lernen oder basteln. Sie können auch mit Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen ins Gespräch kommen.

© UNICEF/UN0719250/Omerbegovic

Was brauchen die geflüchteten Kinder im Land aus Ihrer Sicht am meisten?

Bauman: Die Erfahrungen, die die Kinder während der Flucht gemacht haben, kann schwerwiegende Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden haben. Deshalb ist es wichtig, dass sie neben den Kinderschutzbeauftragten und den gesetzlichen Vormündern auch mit Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen sprechen können. In den Unterkünften gehören Psycholog*innen fest zu den Teams, die vor Ort für die Kinder da sind. So kennt man sich und den Kindern fällt es leichter mit den Psycholog*innen ins Gespräch zu kommen. Je nach ihren Bedürfnissen können die Kinder an Gruppen- oder Einzelsitzungen teilnehmen.

Mohammed liebt Fußball.

Mohammed (14) liebt Fußball. Eines Tages möchte er so sein, wie sein großes Idol Ronaldo.

© UNICEF/UN0469836/Djemidzic

Wie erleben Sie die geflüchteten und migrierten Kinder, die Sie bei Ihrer Arbeit treffen?

Bauman: Es ist immer wieder erstaunlich, wie widerstandsfähig Kinder trotz der Schwierigkeiten sind, denen sie ausgesetzt sind. Viele geben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht auf, obwohl sie zum Beispiel auf ihrem Weg misshandelt wurden oder Gewalt erlebt haben.

Viele Kinder träumen von ganz grundlegenden Dingen: ein sicheres Zuhause, saubere Kleidung, zur Schule zu gehen oder legaler Aufenthaltsstatus in ihrem Zielland. Manche wünschen sich Spielzeug, einen Laptop, ein Telefon oder etwas zum Anziehen, das sie behalten können und das nicht gestohlen oder ihnen weggenommen wird.

Andere möchten später einmal Ärzt*in, Lehrer*in, Verteidiger*in der Menschenrechte oder Polizist*in zu werden. Viele Kinder wollen alles dafür tun, ihre eigenen Träume zu verwirklichen und einen Beitrag dazu leisten, anderen zu helfen. Sie erinnern sich an Menschen, die ihnen begegnet sind und geholfen haben, und sagen: „Ich möchte das Gleiche tun. Ich möchte anderen Menschen helfen, so wie mir geholfen wurde.“

Besonders beeindruckt hat mich einmal die Dankbarkeit eines unbegleiteten Mädchens. Sie schilderte eindrücklich und wortgewandt darüber, wie fremde Menschen ihr auf ihrem Weg geholfen haben, aber auch darüber, wie wichtig es ist, sich dafür einzusetzen, dass die Gewalt, die Kinder auf der Flucht erleben, ein Ende hat.

Vor welchen Herausforderungen steht UNICEF in der Arbeit mit geflüchteten und migrierten Kindern in Bosnien und Herzegowina?

Bauman: Durch den Krieg in der Ukraine wurden die Mittel für die Arbeit mit geflüchteten und migrierten Kindern in Bosnien und Herzegowina erheblich gekürzt. Um ganz konkret zu sein: Wir verfügen im Jahr 2023 nicht über ausreichende Gelder, um grundlegende Schutzmaßnahmen aufrechtzuerhalten, dazu gehört auch die Bereitstellung kinderfreundlicher Räume. Auch eine Mindestversorgung können wir ab Juli 2023 nicht gewährleisten.

Armin kommt aus dem Iran

Armin (16 Jahre) kommt aus dem Iran. Er träumt davon, die Schule abzuschließen und eine Kunsthochschule zu besuchen.

© UNICEF/UN0469733/Djemidzic

Was muss jetzt passieren, damit die Hilfe für geflüchtete Kinder fortgesetzt werden kann?

Baumann: Es ist uns ein großes Anliegen, dass wir jetzt nicht bei der Hilfe nachlassen. Geflüchtete Kinder brauchen auf ihrem Weg jederzeit Schutz und Unterstützung – ganz gleich, wo sie sich aufhalten oder woher sie kommen. Die Menschen in Deutschland können mit einer Spende dazu beitragen, dass wir unsere Arbeit vor Ort fortsetzen können und so mithelfen, Kinder auf der Flucht zu schützen und ihnen eine Kindheit zu ermöglichen.

* Die Autorinnen: Jenifer Stolz und Desirée Weber haben dieses Interview gemeinsam geführt

Desirée Weber, UNICEF Deutschland
Autor*in Desirée Weber

Desirée Weber berichtet im UNICEF Blog zu den Themen Flucht und Migration.