UNICEF-Botschafterin Vanessa Redgrave
© UNICEF/UN0579947/VielzUNICEF-Botschafterin Vanessa Redgrave
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Die Unbeugsame

Zum 85. Geburtstag der Schauspielerin, Menschenrechtsaktivistin und UNICEF-Botschafterin Vanessa Redgrave


von Rudi Tarneden

Eine knisternde Stimme sprach aus dem Radio direkt in das Herz der elfjährigen Vanessa. Eleanor Roosevelt, Ehefrau des ehemaligen US-Präsidenten, las in der BBC die ersten Sätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen unveräußerlichen Rechte alle Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden sind…“

Die Übertragung im Jahr 1948 war ein Schlüsselmoment im Leben der späteren Schauspielerin und Oscarpreisträgerin Vanessa Redgrave: „Ich war elf Jahre alt, als diese Worte mich ergriffen und mir einen Traum eingaben. Diese Worte ergriffen auch Nelson Mandela und Martin Luther King. Sie inspirierten eine ganze Generation“, sagte sie 2006 in einem Gespräch mit einem Journalisten in Berlin.

Ehrenpreis für Kinderrechte 2012: Vanessa Redgrave

Vanessa Redgrave für UNICEF: „Ich bin der Meinung, das Schicksal der Kinder sollte jenseits der Politik stehen“.

© UNICEF/UN0581709/Doost

Kindheit im Krieg

Auf der Theaterbühne hatte der berühmte englische Schauspieler Michael Redgrave am 30.1.1937 die Geburt seiner Tochter bekanntgegeben. Vanessa Redgrave gehört zu einer Generation, die als Kinder den Höllensturz des Zweiten Weltkrieges erlebte. So etwas darf nie wieder geschehen – das wurde ihre tiefste Überzeugung und ihr Antrieb, auch immer wieder politisch ins Rampenlicht zu treten.

Mit ihren Geschwistern sah sie im November 1940 den von Feuer erleuchteten Himmel über der 150 Kilometer entfernten Stadt Coventry. Die Angst und das Gefühl der Bedrohung, die jeden Winkel des Lebens erfasste, teilt sie mit Millionen Kindern in Kriegs- und Krisengebieten. Als sie während des Balkankrieges in den 1990er Jahren die belagerte Stadt Sarajevo besuchte, wurde ihr klar, warum sie viele Jahre ihres Lebens unter Albträumen litt.

Vanessa Redgrave unterhält sich mit engagierten Jugendlichen.

Vanessa Redgrave im Gespräch mit Jugendlichen bei der Vorstellung der UN-Studie zu Gewalt gegen Kinder (2006).

© UNICEF/UNI45313/Berkwitz

Hineingeboren in eine Familie von Schauspielern, kam es ihr nie in den Sinn, einen anderen Weg als die Bühne zu suchen. Rückblickend – so sagte sie der Wochenzeitung „Die Zeit" – hätte sie sich allenfalls vorstellen können, Lehrerin zu werden. Einmal gingen wir nach ihrem Auftritt bei einer UNICEF-Veranstaltung in Berlin abends zurück zu ihrem Hotel. An einer Toreinfahrt sprangen zu später Stunde einige Kinder umher, vielleicht zehn, zwölf Jahre alt. Ich wollte rasch weitergehen, doch sie wandte sich sofort den Kindern zu und erklärte mit warmer, tiefer Stimme geduldig, woher wir kommen. Noch bevor ich übersetzt hatte, fiel mir auf, wie gebannt die Kinder ihr lauschten. Irgendetwas faszinierte an dieser fremden, großen Frau mit ihren unglaublichen Augen.

Vielleicht hätte sie tatsächlich eine gute Lehrerin werden können, so vorbehaltlos wie sie sich für Menschen interessiert. Aber welch große Schauspielerin wäre der Welt entgangen, wenn sie ihr Leben statt in unzähligen Filmen und auf großen Bühnen in trubeligen Klassenzimmern verbracht hätte?

Man muss sich selbst erforschen. Herausfinden, wer man ist. Ich studiere die Menschen und mich selbst.

Vanessa Redgrave
Vanessa Redgrave

Schönheit und Gerechtigkeit

1966 gelang ihr der internationale Durchbruch mit dem Kultfilm „Blow up“, der die Swinging Sixties in London einfängt. Es gibt kaum eine berühmte Schauspielerin oder einen Schauspieler der vergangenen Jahrzehnte, mit denen sie seither nicht vor der Kamera oder auf den größten Bühnen stand. In unzähligen, gnadenlosen Großaufnahmen verleiht sie auf der Kinoleinwand mit feinsten Nuancen ihres Gesichts komplexen Rollen Tiefe und Klarheit zugleich. Sechsmal wurde sie für den Oscar nominiert, 1977 erhielt sie die Auszeichnung genauso wie zahllose Preise. Am Broadway in New York und in London spielte sie allein auf der Bühne „The year of magical thinking“, in dem ihre Freundin Joan Didion die Trauer um ihren verstorbenen Mann verarbeitet.

Allerdings hat sich Vanessa Redgrave nie mit der schillernden Welt der Kunst zufriedengegeben. Die Schauspielschule in den 1950er Jahren unterbrach sie, um gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn zu protestieren. Sie ging gegen den Vietnam-Krieg und gegen die Rassentrennung in Südafrika auf die Straße, da war sie bereits weltbekannt. Sie kämpft für die Menschenrechte und gegen Krieg und Gewalt. Im 80. Lebensjahr führte sie selbst Regie bei dem Dokumentarfilm „Sea Sorrow“, eine filmische Collage über junge Menschen, die in Europa Schutz und Sicherheit suchen, in die sie auch persönliche Erinnerungen und Gedanken einflocht.

West Jerusalem: Vanessa Redgrave im Gespräch mit Jugendlichen.

Vanessa Redgrave hört den Kindern und Jugendlichen bei einem Besuch in West Jerusalem aufmerksam zu.

© UNICEF/UNI64076/Sabella

Die Welt muss aufwachen

Vanessa Redgrave ist einhundert Prozent Gefühl: Sie fühlt Ungerechtigkeit, Gewalt, Krieg, Armut und Hoffnungslosigkeit. Sie verbindet sich mit den rechtlosen, den vergessenen Kindern. Das macht sie manchmal ungeduldig, kompromisslos, bisweilen provokativ. Sie nimmt sich die Freiheit, gängige Erklärungen und Rechtfertigungen in Frage zu stellen. Kampfeswillen und Ausstrahlung seien die beiden Worte, mit denen Vanessa Redgrave am häufigsten charakterisiert werde, zitiert der englische „Independent“ eine Freundin. Zu Zynismus sei sie nicht in der Lage.

Ich bin der Meinung, das Schicksal der Kinder sollte jenseits der Politik stehen.

Vanessa Redgrave
Vanessa Redgrave

Für UNICEF engagiert sie sich seit den 1990er Jahren. Als internationale UNICEF-Botschafterin reiste sie seit 1995 in viele Krisengebiete, zuletzt 2018 in den Nahen Osten. „Die Welt muss aufwachen“ (Wake up World) – so ist der Titel des Dokumentarfilms, den Vanessa Redgrave – ebenfalls zusammen mit ihrem Sohn – als „Tribute to UNICEF“ vor einigen Jahren produzierte – ihre Mahnung ist heute aktueller denn je. „Ich bin der Meinung, das Schicksal der Kinder sollte jenseits der Politik stehen.“

Libanon: Vanessa Redgrave in einem Kindergarten.

In einem Kindergarten in Beirut (Libanon) mit syrischen, palästinensischen und libanesischen Kindern.

© UNICEF/UN0237537/Choufany

Zu UNICEF Deutschland hat sie seit vielen Jahren eine besonders enge Verbindung. „Ich weiß, dass mir nicht mehr so viel Zeit bleibt“, sagte sie im vergangenen Herbst am Telefon, als wir hofften, sie wieder nach Deutschland zu holen. „Ich konzentriere mich jetzt auf das, was wirklich wichtig ist. Aber euch helfe ich gerne.“ Leider wurde durch die erneute Corona-Welle vorerst nichts daraus.

Die Queen hat die Unbeugsame kurz vor ihrem 85. Geburtstag für herausragende kulturelle Verdienste zur „Dame“ ernannt. Sie sei „überrascht und dankbar, zu diesem wunderbaren Kreis britischer Künstler zu gehören, deren Arbeit sie und das Publikum weltweit inspiriert haben“, erklärte sie etwas verwundert, aber auch geehrt der BBC. Und ergänzte: „Meine Generation hat für die Meinungsfreiheit gekämpft. Möge dies lange so bleiben!“

Danke und herzlichen Glückwunsch, Dame Vanessa!

Rudi Tarneden
Autor*in Rudi Tarneden

Rudi Tarneden ist Pressesprecher des Deutschen Komitees für UNICEF.