© UNICEF/UN0237319/ChoufanyUNICEF-Botschafterin Vanessa Redgrave spricht in einem Flüchtlingscamp im Libanon mit einer Familie
Menschen für UNICEF

Die Unbeugsame

Die weltberühmte britische Schauspielerin Vanessa Redgrave erhält den Europäischen Filmpreis für ihr Lebenswerk. Seit Jahrzehnten kämpft die internationale UNICEF-Botschafterin für Kinder- und Menschenechte. Eine Würdigung anlässlich des 75. Jahrestags der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 2023.


von Rudi Tarneden

Eine knisternde Stimme sprach aus dem Radio direkt in das Herz der elfjährigen Vanessa. Eleonore Roosewelt, Ehefrau des ehemaligen US-Präsidenten, las in der BBC die ersten Sätze der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden bildet …“

Die Sendung des Radioprogramms der Vereinten Nationen Ende 1948, vor genau 75 Jahren, war ein Schlüsselmoment im Leben der späteren Schauspielerin und Oscarpreisträgerin Vanessa Redgrave: „Ich war elf Jahre alt, als diese Worte mich ergriffen und mir einen Traum eingaben. Diese Worte ergriffen auch Nelson Mandela und Martin Luther King. Sie inspirierten eine ganze Generation."

Das komplette Scheitern der Menschlichkeit und die monströsen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieg traten damals nach und nach ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte markierte einen Neuanfang, Eleonore Roosewelt sah darin eine „Magna Charta unserer Zeit“, die uns allen gehört.

Für Vanessa Redgrave bedeutet diese Magna Charta eine lebenslange Aufgabe. Denn „keiner der Artikel ist verpflichtend. Sie sind ein Versprechen, deren Geist und Buchstaben verkünden, was die Menschen überall das Recht haben, zu suchen, zu haben und zu erreichen“, so die Schauspielerin in einem Vortrag an der Universität Oxford.

Ehrenpreis für Kinderrechte 2012: Vanessa Redgrave

Vanessa Redgrave für UNICEF: „Ich bin der Meinung, das Schicksal der Kinder sollte jenseits der Politik stehen“.

© UNICEF/UN0581709/Doost

Kindheit im Krieg

Vanessa Redgrave wurde in eine Familie von Künstlern geboren. Auf der Theaterbühne hatte der berühmte englische Schauspieler Michael Redgrave am 30.1.1937 die Ankunft seiner Tochter bekanntgegeben. Sie gehört zu einer Generation, die als Kinder den Höllensturz des Zweiten Weltkrieges erlebte. So etwas darf nie wieder geschehen – das wurde ihre tiefste Überzeugung und ihr Antrieb auch immer wieder politisch ins Rampenlicht zu treten.

Mit ihren Geschwistern sah sie im November 1940 den von Feuer erleuchteten Himmel über der viele Kilometer entfernten Stadt Coventry. „Bei Luftalarm liefen wir in den Schutzraum, da saßen wir und horchten und manchmal sangen Leute etwas.“ Die Angst und das Gefühl der Bedrohung, die jeden Winkel des Lebens erfasst hatte, arbeiteten in ihr fort. Als sie während des Balkankrieges in den 1990er Jahren die belagerte Stadt Sarajevo besuchte, wurde ihr klar, warum sie viele Jahre ihres Lebens unter Albträumen litt. Vanessa Redgrave fühlt mit den unschuldigen Kindern in den Kriegen, ob in der Ukraine, in Palästina und Israel, in Afghanistan oder Sudan.

„Seid laut, hört nicht auf, im Namen der Kinder ein Ende der Gewalt zu verlangen“, sagt sie voller Sorge angesichts des erneuten Krieges im Nahen Osten.

Vanessa Redgrave unterhält sich mit engagierten Jugendlichen.

Vanessa Redgrave im Gespräch mit Jugendlichen bei der Vorstellung der UN-Studie zu Gewalt gegen Kinder (2006).

© UNICEF/UNI45313/Berkwitz

Als Kind einer Schauspielerfamilie kam es ihr nie in den Sinn, einen anderen Weg als den zur Bühne zu suchen. Rückblickend – so sagte sie der Wochenzeitung `Die Zeit`- hätte sie sich allenfalls vorstellen können, Lehrerin zu werden. 2006 gingen wir gemeinsam nach einem ihrer Auftritte bei einer UNICEF-Veranstaltung in Berlin abends zurück zu ihrem Hotel. An einer Toreinfahrt sprangen zu später Stunde Kinder umher, vielleicht zehn, zwölf Jahre alt. Ich wollte rasch weitergehen, doch sie wandte sich sofort den Kindern zu und erklärte mit warmer, tiefer Stimme geduldig, woher wir kommen. Noch bevor ich übersetzt hatte, fiel mir auf, wie gebannt die Kinder ihr lauschten. Irgendetwas faszinierte an dieser fremden, großen Frau mit ihren unglaublichen blauen Augen.

Vielleicht hätte sie tatsächlich eine gute Lehrerin werden können, so vorbehaltlos wie sie sich für Menschen interessiert. Aber welch große Schauspielerin wäre der Welt entgangen, wenn sie ihr Leben statt in unzähligen Filmen und auf großen Bühnen in überfüllten, lauten Klassenzimmern verbracht hätte?

Man muss sich selbst erforschen. Herausfinden, wer man ist. Ich studiere die Menschen und mich selbst.

Vanessa Redgrave
Vanessa Redgrave

1966 gelang ihr der internationale Durchbruch mit dem Kultfilm „Blow up“, der die Swinging Sixties in London einfängt. Es gibt kaum eine berühmte Schauspielerin oder einen Schauspieler der vergangenen Jahrzehnte, mit denen sie seither nicht vor der Kamera oder auf den größten Bühnen stand. In unzähligen, gnadenlosen Großaufnahmen, verleiht sie auf der Kinoleinwand mit feinsten Nuancen ihres Gesichts komplexen Rollen Tiefe und Klarheit zugleich. Sechsmal wurde sie für den Oscar nominiert, 1977 erhielt sie die Auszeichnung genauso wie zahllose Preise. Am Broadway in New York und in London spielte sie jahrelang allein auf der Bühne „The year of magical thinking“, in dem ihre Freundin, die Schriftstellerin Joan Didion, die Trauer um ihren verstorbenen Mann verarbeitet.

Allerdings hat sich Vanessa Redgrave nie mit dem Scheinwerferlicht auf Bühne und Leinwand zufriedengegeben. Die Schauspielschule in den 1950er Jahren unterbrach sie, um gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn zu protestieren. Sie ging gegen den Vietnam-Krieg und gegen die Rassentrennung in Südafrika auf die Straße, da war sie bereits weltbekannt. Sie kämpft für die Menschenrechte und gegen Krieg und Gewalt. Im 80. Lebensjahr führte sie erstmals selbst Regie bei dem Dokumentarfilm „Sea Sorrow“, eine filmische Collage über junge Menschen, die in Europa Schutz und Sicherheit suchen, in die sie auch persönliche Erinnerungen und Gedanken einflocht.

West Jerusalem: Vanessa Redgrave im Gespräch mit Jugendlichen.

Vanessa Redgrave hört bei einem Besuch in West Jerusalem aufmerksam zu (Foto von 2004).

© UNICEF/UNI64076/Sabella

Die Welt muss aufwachen

Vanessa Redgrave ist einhundert Prozent Gefühl: Sie fühlt Ungerechtigkeit, Gewalt, Krieg, Armut und Hoffnungslosigkeit. Sie verbindet sich mit den rechtlosen, den vergessenen Kindern. Das macht sie manchmal ungeduldig, kompromisslos, bisweilen provokativ. Sie nimmt sich die Freiheit, gängige Erklärungen und Rechtfertigungen in Frage zu stellen. Kampfeswillen und Ausstrahlung seien die beiden Worte, mit denen Vanessa Redgrave am häufigsten charakterisiert werde, zitiert der englische „Independent“ eine Freundin. Zu Zynismus sei sie nicht in der Lage. „Sprich was du fühlst und nicht was wir sagen sollten“ – mit diesem Zitat aus William Shakespeares „King Lear“ ist eine Vorlesung von Vanessa Redgrave überschrieben, die sie vor einigen Jahren hielt.

Ich bin der Meinung, das Schicksal der Kinder sollte jenseits der Politik stehen.

Vanessa Redgrave
Vanessa Redgrave

Für UNICEF engagiert sie sich seit den 1990er Jahren. Als internationale UNICEF-Botschafterin reiste sie seit 1995 in viele Krisengebiete, zuletzt 2018 in den Nahen Osten. „Die Welt muss aufwachen“ (Wake up World) – so ist der Titel des Dokumentarfilms, den Vanessa Redgrave – ebenfalls zusammen mit ihrem Sohn Carlo – als „Tribute to UNICEF“ vor einigen Jahren produzierte – ihre Mahnung ist heute aktueller denn je. „Ich bin der Meinung, das Schicksal der Kinder sollte jenseits der Politik stehen“.

Libanon: Vanessa Redgrave in einem Kindergarten.

In einem Kindergarten in Beirut (Libanon) mit syrischen, palästinensischen und libanesischen Kindern (Foto von 2018).

© UNICEF/UN0237537/Choufany

Zu UNICEF Deutschland hat sie seit vielen Jahren eine besonders enge Verbindung, kam immer wieder nach Deutschland, um gemeinsam mit uns für die Rechte der Kinder einzutreten. „Ich weiß, dass mir nicht mehr so viel Zeit bleibt“, sagt sie heute. „Ich konzentriere mich jetzt auf das, was wirklich wichtig ist. Euch helfe ich gerne."

Queen Elizabeth hat die Unbeugsame vor zwei Jahren für herausragende kulturelle Verdienste in den Adelsstand, zur „Dame“, erhoben. Sie sei „überrascht und dankbar, zu diesem wunderbaren Kreis britischer Künstler zu gehören, deren Arbeit sie und das Publikum weltweit inspiriert haben“, erklärte sie etwas verwundert aber auch geehrt der BBC. Und ergänzt: „Meine Generation hat für die Meinungsfreiheit gekämpft. Möge dies lange so bleiben!“

Rudi Tarneden
Autor*in Rudi Tarneden

Rudi Tarneden war von 1995 bis 2023 Sprecher von UNICEF Deutschland.