Erstes Kindergeld in Nepal
Nepal ist ökonomisch und sozialpolitisch ein verarmtes Land - mit dem niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen in Südasien, innerlich zerrissen durch Klassen-, Kasten- und politische Differenzen. Vor rund sieben Jahren endete ein bewaffneter Konflikt, bei dem mehr als 16.000 Menschen umkamen.
Wie arbeitet UNICEF in einem solchen Land, in einer solchen Situation? UNICEF ist seit 45 Jahren in Nepal aktiv, in typischen Tätigkeitsbereichen wie Gesundheits- und Schulsystem, Trinkwasser- und Sanitärversorgung, Kinderschutz. Aber was kann UNICEF dazu beitragen, Grundbedingungen und Strukturen zu verändern? Davon erzählt dieses Beispiel.
Chance auf mehr Geld für arme Haushalte
Nach dem Ende des Konflikts gab es durch alle gesellschaftlichen Gruppen hindurch eine Phase ansteckender Euphorie: Das neue Nepal – ‚Naya Nepal’ versprach wirtschaftliche, soziale, politische Gerechtigkeit. UNICEF packte die Gelegenheit beim Schopf: zum Beispiel für eine Friedensdividende! Während des Bürgerkriegs hatten Militärausgaben jährlich zwölf Prozent des Staatshaushalts verschlungen. Diese könnte man jetzt umwidmen – für einen produktiven Zweck.
Ländliche Entwicklung? Stadterneuerung? Wichtig, auch für das Wohlergehen von Kindern, aber mit einer langen Vorlaufzeit. Zusammen mit anderen UN-Organisationen suchte UNICEF einen Ausgabenbereich, der sofort Geld in arme Haushalte bringen würde und zugleich einen solidarisierenden Effekt hätte.
Kindergeld bot sich als Idee an. Fast jeder Haushalt in Nepal hat Kinder und wie in den meisten Ländern der Welt sind die kinderreichen Haushalte die Ärmsten. Eine Sozialrente gab es schon seit 1995. Daran konnte man sozialpolitisch anknüpfen. Denn diese Rente, auf die alle Senioren des Landes ein Anrecht haben, ist beliebt und effizient.
Kindergeld versus Rente?
Zunächst war man in der Staatlichen Plankommission und im Finanzministerium allerdings skeptisch. Kindergeld - macht das Sinn? Führt das nicht zu noch mehr Geburten? Wäre es nicht einfacher, die Altersrente aufzustocken? Gibt es nicht dringendere Aufgaben? Das reiche Nachbarland Indien hat auch kein Kindergeld. Kann ein Land wie Nepal sich das leisten?
UNICEF machte es sich zur Aufgabe, die Idee zu durchleuchten. Sie engagierte Fachleute der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, um die Kosten für ein allgemeines Kindergeld bis zum Jahr 2030 durchzurechnen. Sie diskutierte mit dem Internationalen Währungsfonds, der auch für Nepal auf Austerität setzte und gegen jegliche neuen Ausgaben war. UNICEF mobilisierte die Asiatische Entwicklungsbank für eine Pilotstudie. UNICEF traf sich mit Parlamentariern und Ministerialbeamten. Aber letztendlich ausschlaggebend war, dass UNICEF-Kolleginnen und -Kollegen, zusammen mit dem Welternährungsprogramm, auf den Dörfern Gesprächsrunden mit Frauen organisierten. Sie wollten aus erster Hand hören, welche Form staatlicher Unterstützung für sie am sinnvollsten wäre.
So fügten sich vielerlei Meinungen und Informationen zusammen. Die Kindergeldidee wurde konkreter. Als es dann 2009 im Staatshaushalt Luft gab, weil die Militärausgaben tatsächlich gesenkt wurden und die Steuereinnahmen unerwartet anstiegen, führte die Plankommission kurzentschlossen das Kindergeld ein.
Kindergeld für bessere Ernährung
Rund 450.000 Kinder, unter fünf Jahren, maximal zwei Kinder pro Haushalt, bekommen heute einen monatlichen Transfer von 200 Rupien. Langfristig sollen alle Kleinkinder Kindergeld bekommen. Vorerst ist es aber auf Kinder der benachteiligten Kaste der Dalit und die ärmste Region des Landes, Karnali, begrenzt. Bedingung: Das Kind muss amtlich gemeldet sein. Viele Eltern melden Geburten nicht, aus Zeitmangel oder Unwissen, was dann bei Impfkampagnen oder spätestens bei der Einschulung Auswirkungen hat. Das ändert sich nun schlagartig.
200 Rupien (knapp 1,80 Euro) - ein lächerlicher Betrag. Die Armutsgrenze liegt bei 1.600 Rupien im Monat. Aber: Auf den Dörfern wird das Kindergeld in drei Tranchen jährlich ausbezahlt, und manche Frauen berichten, noch nie so viel Bargeld auf einmal in Händen gehalten zu haben.
Jashu Rawat, junge Mutter in einem landlosen Haushalt in Humla, dem ärmsten Distrikt, berichtet, sie habe „große Probleme, die Hand zum Mund zu führen“ – das heißt übersetzt „es ist nicht genug zum Essen da“. Sie verwendet das Geld, um die Grundnahrungsmittel Reis, Linsen und Öl zu besorgen. In etwas besser gestellten Haushalten wird das Geld für Eier oder Gemüse ausgegeben, um das übliche vitaminarme Reis- und Linsengericht anzureichern. Eine größere Evaluierung des Nepal Participatory Action Network in 2013 ergab, dass das Kindergeld auch für Schulgeld und Gesundheitsdienstleistungen benützt wird.
Kinderrechte kommen auf die Agenda
Nepals Kindergeld wird aus öffentlichen Mitteln bestritten. Es ist ein regulärer Posten im Staatshaushalt. Ihn wieder zu streichen, wäre politisch unliebsam. Und so hat UNICEF zu einer sozialpolitischen Maßnahme beigetragen, die vielleicht über die Jahre hinweg zur Einkommenssicherheit und gar zu einer Einkommensumverteilung führen könnte. Genauso wichtig wie die Einkommensfrage ist aber, dass diese sozialpolitische Intervention Kinderpolitik salonfähig gemacht hat, dass die Lage - und die Rechte - von Kindern ein politisches Thema geworden sind.
Was aber, wenn das Kindergeld missbraucht wird? Das ist ein Vorbehalt, den wir auch aus der deutschen Hartz-IV-Diskussion kennen. Für die 200 oder 400 Rupien cash, die nun zusätzlich in der Haushaltskasse liegen, kann man sich bidis (Zigaretten) oder raksi (Schnaps) genehmigen. Das lässt sich nicht ausschließen. Aber es gibt begleitende Initiativen, die dem zumindest entgegenwirken: Schon lange gibt es Schülerclubs für Mädchen und Jungen, von UNICEF und anderen Organisationen unterstützt. An die 13.000 registrierte Clubs verteidigen in den patriarchalischen Dörfern die Rechte der Kinder. Sie diskutieren mutig mit Eltern, die alkoholabhängig sind oder ihre Töchter im Kindesalter verheiraten wollen und mit Lehrern, die Schulkinder schlagen oder Dalitkinder ausgrenzen. UNICEF Nepal unterstützt auch ehrenamtliche Gesundheitshelferinnen. Sie beraten Schwangere und junge Mütter in Ernährungsfragen und Gleichberechtigung.
UNICEF-Projekte im Kampf gegen Mangelernährung
Auf Regierungsebene trägt UNICEF Nepal eine Kampagne gegen Mangelernährung mit. 40 Prozent der Kinder Nepals leiden an chronischer Mangelernährung. Das hat nicht nur mit Armut zu tun. Sie beruht auch auf fehlenden Kenntnissen um gesunde Ernährung und sie hängt eng mit dem Geschlecht zusammen – besonders Mädchen sind betroffen. Das neue Ernährungsprogramm, 2012 verabschiedet, umschließt viele Bereiche. Federführend ist nicht das Familienministerium, wo es in einem Politikghetto geblieben wäre, sondern die Plankommission. Den Vorsitz führt hier der Premierminister. Chefsache also.
Was noch? Zum “neuen Nepal” gehört auch eine progressive Verfassung. Leider ist die verfassungsgebende Versammlung 2012 ohne Ergebnis aufgelöst worden. Aber es gilt nach wie vor die wegweisende Übergangsverfassung aus dem Jahre 2007, die das Recht des Kindes an zentraler Stelle aufführt. Wer da wohl mitgewirkt hat?