UNICEF-Aktionen

Anstoß


von Autor Christian Schneider

Es gibt ja diese Elfmeter, bei denen sich der Schütze beim Schuss einen Tick zu weit zurücklehnt. Vielleicht ist er in Gedanken nicht ganz beim runden Leder, oder schon eine Runde weiter – ganz gleich, hier geht es gar nicht um Fußball, wie Sie ahnen.

Kinderrechte in der Ukraine stärken. ©UNICEF

Kinderrechte in der Ukraine stärken.

© UNICEF

Aber stellen Sie sich vor, er hämmert den Ball nicht nur nicht ins Eckige, sondern weit über das Tor hinaus in den Abendhimmel der Ukraine. Der Ball fliegt in hohem Bogen an Fenstern vorbei, in denen es grün flimmert, weil längst nicht alle eine Karte für das Stadion haben. Dann landet er in einer Nebenstraße, die vom lauten Spektakel des Fußballs nicht erfasst wird. Langsam rollt der Ball den Bürgersteig hinab und wird endlich durch ein Bündel gestoppt, das sich bei der Berührung plötzlich bewegt: drei Kinder, die sich in einer Nische verkrochen und eng zusammengerollt haben. Sie suchen beieinander Schutz – vor der nächtlichen Kälte, vor den Alpträumen, von denen es in ihrem jungen Leben schon viel zu viele gibt.

Ich hoffe, dass der erwähnte Elfmeter-Schütze in den Tagen der Fußball-Europameisterschaft nicht zu der Mannschaft gehört, die Sie unterstützen. Ebenso sehr hoffe ich aber auch, dass Sie und viele weitere Fans und alle aus der Fraktion der anderen in den kommenden Wochen auch einen Blick über das Stadion hinaus werfen. Die drei Kinder in dem Gedanken-Film oben sind drei von ungefähr 100.000 Kindern, die nach Schätzungen von UNICEF auf den Straßen der Ukraine gelandet sind. Bei den meisten sind massive Probleme zu Hause der Grund: frustrierende Arbeitslosigkeit, Stress, am Ende Alkohol oder Drogen. Aus einem Besuch in der Ukraine vor einigen Jahren sind mir die scharfen sozialen Gegensätze im Land noch gut vor Augen. Am meisten leiden darunter die Kinder. Gewalt, auch Prostitution, für allzu viele auch eine HIV-Infektion – die Kindheit vieler dieser Kinder gehört zum härtesten, was UNICEF-Kollegen erleben. Auch die Tradition, Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen in ein Heim zu geben, ist noch nicht gebrochen. Es sind ebenfalls rund 100.000 (!) Mädchen und Jungen, denen nach Jahren der Ausweglosigkeit und der Not nur eine Kindheit in einer Institution bleibt.

Rudi Luchmann, mein langjähriger deutscher UNICEF-Kollege, hat für uns beschrieben, wie UNICEF Straßenkindern und anderen besonders benachteiligten Jugendlichen bei einem Fußballturnier die Chance gibt, für ein paar Stunden die Unbeschwertheit, das Zusammensein beim Sport zu erfahren. Das ist sehr bewegend. Viele ukrainische Prominente wie Gaitana oder Andrej Shevchenko unterstützen die Kampagne „Rote Karte“, bei der UNICEF mit Partnern auf die Probleme vieler Kinder und Jugendlicher im Land hinweist, um diese gemeinsam anzugehen. Die UNICEF-Mannschaft nimmt die EM als Chance für die Jungen und Mädchen in der Ukraine. Als Elfmeter für die Kinderrechte.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.