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Die KINDER und der KRIEG

Berlin, 8. Mai 2020: Vor 75 Jahren endete der zweite Weltkrieg in Europa. Die Lebenskunde-Lehrerin Jana Rieger hat in diesem Jahr drei Veranstaltungen zum Thema durchgeführt, und zwar mit Kindern, darunter vielen aktuellen Kriegs- und Flüchtlingskindern. UNICEF Berlin war dabei!

Die Aktionen dienten der Erinnerung und Würdigung von verfolgten, unmenschlich behandelten und zum großen Teil ermordeten Menschen der NS-Zeit, Juden und Zwangsarbeitern. Doch die Begegnungen und das Gedenken sollten nicht nur rückwärtsgewandt sein, sondern vielmehr eine Zukunft des friedlichen Miteinanders schaffen - eine „Zukunft durch Erinnerung“ (so der Titel eines der Projekte) oder, um es mit der Herzlichkeit und Leidenschaft von Jana Riegers tschechischen Freunden zu formulieren, sie sollten „die Tränen der Trauer in Tränen der Hoffnung durch die Liebe des Herzens verwandeln“!

Die ersten beiden Veranstaltungen, die glücklicherweise wenige Tage vor dem Corona-Lockdown noch stattfinden konnten, bestanden in Gesprächen von älteren Grundschülern mit jüdischen Zeitzeugen. Ich durfte an der Begegnung der 5. und 6. Klassen mit Franz Michalski, Sohn einer jüdischen Mutter, teilhaben. Er war zu Kriegsbeginn fünf Jahre alt gewesen.

Eine weitere, von Jana Rieger mitgetragene Aktion war die Aufstellung von Stelen, welche eine Schülergruppe der Sekundarstufe 1 zusammen mit dem Künstler und Bildhauer Wolfgang Schneider zum Gedenken an Zwangsarbeiter in Biesenthal angefertigt hat. Wegen der Kontaktsperre fand die Aufstellung nur mit Jana Rieger und Wolfgang Schneider statt und leider nicht, wie ursprünglich vorgesehen, unter Beteiligung der Öffentlichkeit. Eine Einweihungsfeier soll aber zu gegebener Zeit nachgeholt werden.

Verfolgt und verängstigt: Das Kind einer jüdischen Mutter

Das Gespräch von Franz Michalski mit den Kindern der Grundschule an der Bäke in Berlin-Steglitz fand am 28. Februar statt. Ca. 80 Kinder zwischen 9 und 11 Jahren versammelten sich in der Aula, um den Bericht über seine Kindheit in den Jahren 1934-45 zu hören. Franz Michalski trug mit der Unterstützung seiner Frau Petra so anschauliche Beschreibungen seiner Familie und ihres Schicksals vor, dass es eine ganze Stunde mucksmäuschenstill im Saal war. Herr Michalski war als kleines Kind zunächst heftigen antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt und schließlich jahrelang auf der Flucht vor der Gestapo. Er fand zusammen mit seiner Mutter und seinem Bruder verschiedene Verstecke und Helfer, die ihr Überleben möglich machten, doch es war eine Kindheit voller Angst und Schrecken. Seine Erinnerungen sind in dem Buch „Als die Gestapo an der Haustür klingelte ...: Eine Familie in „Mischehe“ und ihre Helfer (Publikationen der Gedenkstätte Stille Helden) nachzulesen.

Die Fünft- und Sechstklässler hatten sich mit Frau Rieger auf die Begegnung mit Michalski vorbereitet und Fragen wie diese formuliert:

Wie war das Gefühl im Weltkrieg? Hattest Du Angst?

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Der Brief eines Grundschülers an den Zeitzeigen Franz Michaslki und seine Frau (der Name wurde aus Datenschutzgründen ausgeschnitten).

Viele Kinder suchten nach dem Ende des Gesprächs die Nähe des Zeitzeugen Michalski und wollten etwas Gegenständliches finden, das sie zur Erinnerung behalten könnten: sie ließen sich schließlich fast alle ein Autogramm geben. Die Kinder wollten Herrn Michalski vor allem ihre Anteilnahme zeigen, aber auch gern mehr erfahren oder vielleicht ihre Erlebnisse mit ihm teilen. Man konnte den Hoffnungsschimmer sehen, den sie für ihre ungewisse Zukunft bei Herrn Michalski suchten. Kann man, wenn man ihn sieht, hört und anfasst, nicht angstfrei werden?

Verschleppt und versklavt: Zwangsarbeiter in Biesenthal

Die nächste Aktion, die Jana Rieger organisiert hat, war die Aufstellung von Stelen zur Erinnerung an Zwangsarbeiter. Sie ist ein Ergebnis eines zweijährigen Projekts: Neele Reiter, Marcel Franjev und Luca Rosemann, eine Schülerin und zwei Schüler der Freien Naturschule Barnim in Biesenthal (Brandenburg), sind der Vergangenheit ihres Schulgebäudes sprichwörtlich auf den Grund gegangen. Mit der Feststellung, dass auf diesem Boden Zwangsarbeit stattgefunden hatte, wurde das Thema von den Jugendlichen konsequent weiter erarbeitet, und zwar im ganzen Ort. So wurden von ihnen ein Außenlager vom KZ Sachsenhausen gefunden und als Bodendenkmal eingetragen sowie mehrere Zwangsarbeiterlager für tschechische und polnische Zivilarbeiter, französische Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte entdeckt. Auch ein stiller Held wurde gefunden: der niederländische Diplomat Adrianus Millenaar konnte aus Biesenthal heraus durch vorsichtiges Handeln auf verdecktem Weg einige Verfolgte vor dem Tod retten.

Für die Zwangsarbeiter in Biesenthal hat die Schülergruppe in Kooperation mit tschechichen Schülern und unterstützt von Jana Rieger und Wolfgang Schneider, sieben Stelen für sieben Orte der Zwangsarbeit in Biesenthal kreiert und einen „Weg der Würde“ geschaffen. Die Stelen tragen Reliefs, die beim gemeinsamen Nachspüren der Schrecken und Qualen entstanden sind. Im Dialog darüber keimte immer die Hoffnung für eine friedliche Zukunft und die Liebe zu den Menschen sowie der Wunsch zum sozialen und freundschaftlichen Miteinander auf. So stehen die sieben Stelen für beides, das Vergangene und das Kommende. Tatsächlich sind auch die eingangs erwähnten Worte der Tschechen der Titel einer Stele für die Zwangsarbeiter im Lager Heideberg. Das Symbol der Stele zeigt Tränen, die nach unten und nach oben laufen.

Durch die Aufarbeitung der Schicksale nichtdeutscher Opfer des Krieges in Biesenthal und die Zusammenarbeit von deutschen und tschechischen Jugendlichen ist wieder eine neue Brücke in Europa gebaut worden, die zu mehr Vertrautheit führte und den Frieden fördern wird.

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Bild 1 von 3 | Die Lehrerin Jana Rieger (rechts) und der Bildhauer Wolfgang Schneider (links) stellen die Stele "Die Tränen der Trauer in Tränen der Hoffnung durch die Liebe des Herzens verwandeln" zur Erinnerung an das Zwangsarbeitslager Heideberg in Biesenthal auf.

© UNICEF Berlin
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Bild 2 von 3 | Jana Rieger und Wolfgang Schneider an der Stele für italienische Militärinternierte im Lager der SS-Hundestaffel am Bahnhof Biesenthal.

© UNICEF Berlin
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Bild 3 von 3 | Jana Rieger an der Stele "Im Bewusstsein von Vergangenheit und Zukunft das soziale Miteinander erneuern". Sie erinnert an tschechische Zwangsarbeiter im Lager PAULA (Polizeiausweichlager).

© UNICEF Berlin

“Nie wieder!”

„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, ist blind für die Gegenwart“, habe ich selbst als Kind gelesen und mir für immer ins Herz geschrieben. Daraus folgt der Auftrag „Nie wieder!“, und zwar als Auftrag an mich ganz persönlich. „Nie wieder“ muss ich mitverantworten. Ich selbst bin aufgerufen, für meinen Teil dafür zu sorgen, dass nie wieder passiert, was in dem Land, in das ich hineingeboren worden bin, viele Jahre geschehen ist.

Also ist es mein eigenes Wissen und Gewissen, das zählt. Vor allem deshalb engagiere ich mich für Kinder im Hier und Jetzt. Denn wenn ich „Nie wieder!“ proklamiere, kann ich doch auf keinen Fall schweigen, wenn jüdische Kinder oder traumatisierte Kriegskinder, Flüchtlinge, Menschen anderer Hautfarbe oder Religion mitten unter uns angefeindet und sogar tätlich angegriffen werden.

Wenn ich sage „Nie wieder!“ und in den Nachrichten lese, höre und sogar sehe, dass etliche Kinder Missbrauch und Gewalt erleiden (auch in Deutschland, und noch mehr seit dem Lockdown), dass Rohingya oder Homosexuelle oder Frauen und Mädchen verfolgt werden und unter den unwürdigsten Bedingungen leben müssen, kann ich mich doch nicht an 1945 erinnern und auf die daraus resultierende Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 verweisen, aber zugleich untätig bleiben. Wenn ich aus Berichten, ob von Mitarbeitern der UN, anderen NGOs oder von unabhängigen Journalisten sicher weiß, dass Millionen Kinder in diesem Moment Opfer von Verbrechen wie Kinderprostitution, Kinderpornographie und ausbeuterischer Schwerstarbeit, versklavt und irgendwo eingesperrt sind, schmerzhaft Hunger leiden und auf sich allein gestellt um ihr Leben kämpfen, darf ich doch nicht „Nie wieder“ sagen und gleichzeitig diese Gegenwart durch Schweigen hinnehmen.

UNICEF hilft allen notleidenden Kindern - und ich bin persönlich dankbar für jede und jeden, der UNICEFs Hilfsprogramme durch Mitarbeit oder Spenden unterstützt. Besonders dankbar bin ich heute auch für Jana Riegers wichtige Arbeit, mit der sie hilft, die “Zukunft durch Erinnerung” menschlich zu gestalten und mit der sie den Auftrag “Nie wieder!” zugleich an die Kriegsurenkel von 1945 und die Kriegskinder von heute weitergibt.

Ann-Katrin Fahrenkamp


Weitere Hinweise:

zukunft-durch-erinnerung.de heißt die Website zum Projekt in Biesenthal. Dort werden die Hintergründe und die oben abgebildeten Symbole der Stelen-Reliefs erläutert.