© UNICEF/UNI338394/EtgesDeutschland: Julya schaut aus dem Fenster des Familienzimmers in der Flüchtlingsunterkunft.
Gut zu wissen

Wie geht es Kindern in Flüchtlingsunterkünften?

Gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium und weiteren Partnern führt UNICEF seit 2016 eine Initiative zum Schutz von geflüchteten und migrierten Kindern in Flüchtlingsunterkünften durch. Gewaltschutz-Expertin Ulrike Ottl spricht im Interview darüber, vor welchen Herausforderungen Kinder in Sammelunterkünften stehen und wie sie wirksam vor Gewalt geschützt werden können.


von Jenifer Stolz

Geflüchtete und migrierte Kinder, die in Sammelunterkünften leben, befinden sich häufig in einer schwierigen Situation. Sie müssen oft mit vielen fremden Menschen auf engem Raum zusammenleben und sind nicht ausreichend vor Gewalt geschützt. Wir haben mit Ulrike Ottl über die Lage von Mädchen und Jungen in Gemeinschaftsunterkünften und Aufnahmezentren gesprochen. Die Diplom-Psychologin berät Unterkünfte für geflüchtete Menschen in Niedersachsen und Bremen zum Thema „Gewaltschutz“.

Frau Ottl, wie lange arbeiten Sie schon als Gewaltschutz-Expertin und was sind Ihre Aufgaben?

Ottl: Angefangen habe ich 2016 als Gewaltschutzkoordinatorin in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Niedersachsen. Vor zwei Jahren wurde ich dann Multiplikatorin für Gewaltschutz in Unterkünften in Niedersachsen und Bremen. Die Position ist beim Diakonischen Werk in Stadt und Landkreis Osnabrück angesiedelt.

Meine Aufgabe ist es, Mitarbeitende in kommunalen Behörden und Landesbehörden, aber auch in Erstaufnahmeeinrichtungen und kommunalen Gemeinschaftsunterkünften zu verschiedenen Aspekten des Gewaltschutzes zu beraten. Ich organisiere Schulungen zum Gewaltschutz und den Bedarfen vulnerabler Personengruppen wie beispielsweise Kindern. Wenn Unterkünfte Konzepte zum Schutz ihrer Bewohner*innen vor Gewalt erarbeiten oder umsetzen wollen, unterstütze ich sie und begleite sie bei dem Prozess.

Es sollte das Bestreben aller sein, Sammelunterkünfte für geflüchtete und migrierte Kinder zu einem sicheren Ort zu machen.

Ulrike Ottl, Multiplikatorin für Gewaltschutz des Projektes „Dezentrale Beratungs- und Unterstützungsstruktur für Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften“ (DeBUG) für Niedersachsen und Bremen
Portrait-Ulrike Ottl

Wie würden Sie das Leben von Kindern in Unterkünften für geflüchtete Menschen beschreiben?

Ottl: Das Leben in den Unterkünften stellt vor allem für Familien mit Kindern eine große Herausforderung dar. Sammelunterkünfte sind kein Ort für Kinder, an dem sie nach einer anstrengenden und gefährlichen Flucht zur Ruhe kommen und teilweise traumatische Erlebnisse verarbeiten können.

Gerade in Erstaufnahmeeinrichtungen fehlen im Alltag Strukturen und die Anspannung der ganzen Familie während der Dauer des Asylverfahrens und die Ungewissheit, wie sich ihre Zukunft gestalten wird, wirken sich besonders auf die Kinder aus. Hinzu kommt, dass es kaum Rückzugs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder gibt und dass sich durch die hohe Fluktuation der Bewohner*innen in Erstaufnahmeeinrichtungen das soziale Umfeld permanent ändert.

In Niedersachsen und Bremen setzt die Schulpflicht für geflüchtete und migrierte Kinder erst mit der Verteilung in eine Kommune ein. Es gibt in Erstaufnahmeeinrichtungen zwar Unterrichtsangebote, aber dennoch können große Lücken in den Bildungsbiographien der Kinder entstehen.

Kinder und ihre Familien sollten sich nur so kurz wie möglich in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften aufhalten. Rechtlich ist der Aufenthalt von Familien in Erstaufnahmeeinrichtungen auf sechs Monate begrenzt, danach muss eine Verteilung auf die Kommunen stattfinden. Doch es kommt immer wieder zu längeren Aufenthalten Besonders betroffen davon sind Familien, die besondere Bedarfe haben oder mit schwer erkrankten Familienmitgliedern, für die erst eine bedarfsgerechte Unterbringung gefunden werden muss. Während der Corona-Pandemie hat sich die Verteilung auf die Kommunen teilweise weiter verzögert.

Hat die Pandemie die Lage von Kindern in den Unterkünften verschärft?

Ottl: Durch die Corona-Pandemie sind Kinder in Unterkünften für geflüchtete Menschen besonders betroffen, beispielsweise durch die Schließung der Kinderbetreuung und dem Wegfall der Unterrichtsangebote. Diese Angebote strukturieren den Alltag der Kinder und geben ihnen Halt. Das Entfallen der Freizeit- und Sportangebote trifft Kinder in einem sehr beengten Wohnumfeld und einem sehr reduzierten Beschäftigungsangebot besonders hart. Verschärft wird diese Situation noch, wenn Familien sich vorübergehend in Quarantäne befinden.

Ein grundsätzliches Problem in Unterkünften ist der nicht flächendeckend verfügbare Internetzugang. Besonders in Zeiten der Kontaktbeschränkungen ist dies schwierig, weil Kinder und ihre Familien so nur sehr eingeschränkt den Kontakt zur Verwandtschaft halten können oder auch Informationen, Bildungs-, Beratungs- und Unterhaltungsangebote wahrnehmen können.

Durch die Pandemie haben sich in den Unterkünften - wie auch überall sonst - bestehende Herausforderungen besonders deutlich gezeigt und häufig verschärft.

Deutschland: Die elfjährige Joudi fährt vor der Flüchtlingsnotunterkunft Rollschuh.

Sammelunterkünfte für geflüchtete Menschen sind keine sicheren Orte für Kinder.

© UNICEF/UNI271025/Gilbertson VII Photo

Sind die Mädchen und Jungen in diesem Umfeld gut vor Gefahren geschützt?

Ottl: Die Antwort auf diese Frage hängt von vielen Faktoren ab. In erster Linie von den individuellen Gegebenheiten in der jeweiligen Unterkunft, aber auch davon, ob Eltern in dieser Ausnahmesituation in der Lage sind, ihre Kinder vor Gefahren zu schützen oder ob sie, wenn notwendig, Unterstützung bei dieser Aufgabe von den Mitarbeitenden in der Unterkunft und von externen Stellen erhalten.

Zur Häufigkeit von Gewaltvorfällen in Unterkünften für geflüchtete Menschen gibt es keine flächendeckenden Statistiken. Jedoch kann ich aus meiner Praxiserfahrung berichten, dass Kinder in Unterkünften teilweise selbst Gewalt erfahren, auch innerhalb der eigenen Familie, und dass sie häufig Zeug*innen von Gewalt werden. So erleben sie beispielsweise Abschiebungen anderer Bewohner*innen mit, die in der Regel nachts durchgeführt werden und – nicht nur bei den Kindern – Angst auslösen. Möglicherweise nehmen sie Gewalt in anderen Familien wahr, erfahren von Suizidversuchen von Bewohner*innen oder sind betroffen von Beleidigungen.

Auch sind Unterkünfte häufig nicht „kindersicher“ ausgestattet und Kinder sind in diesem Umfeld Unfallgefahren ausgesetzt, z.B. durch fehlende Kindersicherungen an den Fenstern und Steckdosen, beim Spielen auf dem Außengelände oder durch fahrende Autos.

Träger*innen und Betreiber*innen sowie die Mitarbeiter*innen in einer Unterkunft können viel dazu beitragen, das Umfeld für Kinder sicherer zu gestalten. Dazu müssen allerdings die Risiken für Kinder in der jeweiligen Unterkunft bekannt sein. Hierbei müssen Kinder und Eltern einbezogen werden, denn sie können ihre Situation am besten einschätzen. Das sollte die Grundlage zur Entwicklung von Schutzkonzepten sein.

Wie können Kinder in Sammelunterkünften denn besser vor Gewalt geschützt werden?

Ottl: Hier stellen die Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Unterkünften ein wirksames Instrument dar, die gemeinsam von UNICEF und dem BMFSFJ und vielen Partner*innen erstmals im Jahr 2016 veröffentlicht wurden.

Die Mindeststandards geben eine Orientierung zur Verbesserung und Sicherstellung des Schutzes von geflüchteten Menschen in Sammelunterkünften. Sie bilden bereits vielfach die Grundlage für die Entwicklung von sogenannten Gewaltschutzkonzepten in den Bundesländern und für einrichtungsspezifische Schutzkonzepte.

So kann der Schutz von Kindern zum Beispiel durch verschiedene bauliche Maßnahmen, eine Sensibilisierung der Mitarbeitenden, die Einrichtung von kinderfreundlichen Orten etc. stark verbessert werden. All das kann Teil der Schutzkonzepte sein.

Meiner Meinung nach ist der wichtigste Punkt jedoch eine Stärkung und Unterstützung der Eltern, denn Eltern sind und bleiben die wichtigsten Bezugspersonen für ihre Kinder. Starke Eltern können ihre Kinder stärken und schützen.

In Einrichtungen, deren Mitarbeitende bereits mit den Mindeststandards vertraut waren und für die Bedarfe vulnerabler Personengruppen sensibilisiert waren, konnte auch unter Corona- und Quarantänebedingungen besser auf die individuellen Schutzbedürfnisse der Bewohner*innen eingegangen werden.

In den letzten Jahren sind die Mindeststandards mehrfach überarbeitet worden. Aktuell liegt die neueste - nunmehr vierte - Version der Mindeststandards vor. Im Rahmen der Überarbeitung fanden Ende 2020 mehrere Konsultationsworkshops statt, in denen Praktiker*innen über sinnvolle Anpassungen und die Erhöhung der Benutzungsfreundlichkeit diskutiert haben. Ich freue mich, dass ich ein Teil davon sein konnte – und bin gespannt auf das Ergebnis!

Info

Die von UNICEF und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016 ins Leben gerufene Bundesinitiative zum „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ hat das Ziel, Kinder, Jugendliche und andere Personen mit besonderen Bedürfnissen in Flüchtlingsunterkünften besser zu schützen sowie ihren Zugang zu Bildungsangeboten und psychosozialer Unterstützung zu verbessern.

Im Rahmen der Bundesinitiative wurden erstmals bundesweit einheitliche Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften entwickelt, die zuletzt im Juni 2021 aktualisiert wurden. Die Mindeststandards wurden in rund 100 Unterkünften von Koordinatoren und Koordinatorinnen für Gewaltschutz erprobt, die in enger Abstimmung mit der Leitung der Unterkunft auf die Einrichtung zugeschnittene Schutzkonzepte entwickelt und ihre Umsetzung begleitet haben.

Was können Länder und Kommunen für einen besseren Schutz von geflüchteten und migrierten Kindern tun?

Ottl: Die Mindestschutzstandards und die darauf basierenden Gewaltschutzkonzepte sollten fester Bestandteil in allen Unterkünften für geflüchtete Menschen sein. Das ist die Basis für einen effektiven Gewaltschutz in den kommunalen Gemeinschaftsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder. Dazu sollten die Mindeststandards bundesweit verbindlich gemacht werden. Nur so kann die Verbindlichkeit und die Bereitstellung von notwendigen Ressourcen zur Umsetzung von Gewaltschutz sichergestellt werden.

Gewaltschutz ist eine Querschnittsaufgabe für alle Mitarbeiter*innen in den Unterkünften, aber es werden Gewaltschutzbeauftragte benötigt, die die Konzepte in den Einrichtungen implementieren, die Umsetzung koordinieren und die Konzepte fortschreiben. Dies ist leider noch nicht flächendeckend der Fall, es gibt jedoch erste Bundesländer, die Stellen für Gewaltschutzbeauftragte geschaffen haben. Ich habe die Hoffnung, dass durch diese best-practice-Beispiele auch andere Bundesländer und Kommunen ermutigt werden und den Gewaltschutzauftrag, der durch die Änderung des Asylgesetzes im Jahr 2019 nun auch bundesweit einheitlich gesetzlich verbindlich festgeschrieben ist, mit entsprechenden Personalstellen unterstützen.

Denn: Gewaltschutzkonzepte müssen gelebt und gepflegt werden, wenn der Gewaltschutzauftrag ernst genommen wird.

Nicht zuletzt stellt ein regelmäßiges verpflichtendes Monitoring der Umsetzung der Gewaltschutzkonzepte in den Unterkünften durch die Aufsichtsbehörden ein wichtiges Instrument der Qualitätssicherung dar.

Autorin: Jenifer Stolz
Autor*in Jenifer Stolz

Jenifer Stolz berichtete bis 2023 aus der Pressestelle über alle aktuellen UNICEF-Themen.