Meinung

Die Frage nach dem Glück


von Christian Schneider

Einen Aufschrei wie nach den ersten PISA-Tests, als das mathematische Debakel deutscher Schüler die Bildungsrepublik erschütterte, wird es wohl nicht geben, wenn wir heute die neueste UNICEF-Studie vorstellen.

Zum dritten Mal hat UNICEF die aktuellsten Daten zu einem umfassenden Vergleich kindlichen Wohlbefindens in den reicheren Ländern der Welt zusammengetragen.

Jugendliche vor Neubau-Siedlung in Berlin (© UNICEF DT/2012/Liesa Johannssen)

Laut der UNICEF-Studie fühlt sich eine große Zahl junger Menschen in Deutschland ausgeschlossen.

© UNICEF DT/2012/Liesa Johannssen

Wer Kindheit und Jugend vor allem als Zeit zahlreicher Lebensrisiken bewertet oder gar auf zu optimierendes „Humankapital“ hofft, der mag sich zufrieden zurücklehnen: Das deutsche Bildungswesen steht deutlich besser da als vor zehn Jahren. Die Jugendarbeitslosigkeit ist im internationalen Vergleich sehr niedrig. Obendrein rauchen die Kinder in Deutschland inzwischen viel weniger. Friedlicher als anderswo sind sie auch: Deutlich weniger als 30 Prozent sagen, im zurückliegenden Jahr in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt gewesen zu sein. Das ist vorbildlich, weil deutlich weniger als in allen anderen Ländern.

Ergebnisse der neuen UNICEF-Studie zu Kinderarmut

Alles in allem ist Deutschland ein besserer Ort für Kinder geworden, könnte man sagen. Schließlich ist diesmal ein guter sechster Rang statt des angestammten Mittelfeldplatzes herausgekommen.

Zahlen gut, alles gut also? Lässt sich das Wohlbefinden von Mädchen und Jungen wirklich daran festmachen, wie gut ihr kluger Kopf mit Rechenaufgaben umgeht und wie sehr sie dem Leistungsdruck der jüngeren Erwachsenenjahre, pardon: der Kindheit, standhalten?

Auch dieser Frage geht die UNICEF-Studie zur Lage der Kinde in Industrieländern nach, wenn im zweiten Teil danach geforscht wird, wie zufrieden die Kinder selbst mit ihrer Lebenssituation sind. Die Kinder direkt zu befragen ist ganz im Sinne der UN-Konvention über die Rechte des Kindes. Was dabei allerdings für Deutschland herauskommt, nennen Forscher wie der Berliner Mikrosoziologe Hans Bertram ein „vernichtendes Urteil“. Warum, so die Frage, schneidet Deutschland bei objektiven Faktoren kindlichen Wohlbefindens, die von der Gefahr materieller Armut über Bildung, Gesundheit, Wohnung und Umwelt bis hin zum Risikoverhalten so einiges an kindlichem Leben abdecken, gut ab, um dann bei der eigenen Einschätzung der Kinder auf den 22. Platz abzustürzen? In keinem anderen der hier untersuchten 29 Länder findet sich eine solche Kluft. Und warum sieht es beim Nachbarn Niederlande so anders aus, wo die gemessenen Faktoren für das Wohlbefinden der Kinder und ihre selbst geäußerte, ebenfalls sehr hohe Zufriedenheit den Spitzenplatz im Ländervergleich ergeben?

Offenbar, so kann man die UNICEF-Studie lesen, reicht es nicht aus, auf formale Leistungen zu schauen, wenn sich gleichzeitig eine große Zahl junger Menschen ausgeschlossen fühlt, wenn sie nicht daran glauben, aktiv an dieser Gesellschaft teilhaben zu können. Mindestens lässt die Einschätzung der Jungen und Mädchen nicht darauf hoffen, dass sie selbst ihre Gesellschaft als besonders kinderfreundlich empfinden.

Das kindliche Wohlbefinden zur Richtschnur machen

Jugendliche in einer Plattenbausiedlung in Berlin (© UNICEF DT/2012/Liesa Johannssen)

UNICEF fordert, das kindliche Wohlbefinden in all seinen Aspekten zur Richtschnur zu machen.

© UNICEF DT/2012/Liesa Johannssen

Bis zur Bundestagswahl im September wird es manch hitzige Debatte über soziale Gerechtigkeit und Familienpolitik geben. Aus der UNICEF-Studie wird deutlich: So dringend es ist, gegen Kinderarmut vorzugehen, jedem Kind Zugang zu guter Bildung zu sichern und vor allem die Unterstützung für benachteiligte Kinder auszubauen, so sehr kommt es auch darauf an, das kindliche Wohlbefinden insgesamt in all seinen Aspekten zur Richtschnur der Politik zu machen. Das Glück der Kinder ist nicht in Schulnoten zu messen. Auf dem Weg in eine kinderfreundliche Gesellschaft brauchen sie Freiräume (und die Zeit), um in verlässlichen Beziehungen zu ihren Eltern und Geschwistern, den Freunden und Lehrern aktiv ihr Leben entdecken und gestalten zu können.

An das Ende seiner neuen UNICEF-Untersuchung stellt Autor Peter Adamson die Mahnung, wie entscheidend es ist, die wichtigen Jahre der Kindheit so gut es geht zu schützen – im Sinne der Kinder und der ganzen Gesellschaft. Dem ist nichts hinzuzufügen: „Es wird immer etwas geben, das dringlicher erscheint als der Schutz des kindlichen Wohlbefindens. Aber es wird nie etwas Wichtigeres geben.“

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Die Frage nach dem Glück – Teil II

UNICEF-Studie zur Lage der Kinder in den Industrieländern 2013

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.