Menschen für UNICEF

Religion und Vorurteile: Glaubst du in Schwarz-Weiß?

Emina engagiert sich ehrenamtlich im UNICEF JuniorTeam. Sie lebt in der Nähe von München und hat dort für ihre Schülerzeitung einen Beitrag über Religionsfreiheit geschrieben, den wir nun auch auf unserem Blog veröffentlichen.


von Emina Babić

Über sich selbst sagt Emina: „Ich bin sehr stolz darauf, mich Bosniakin nennen zu dürfen, aber ich verurteile niemanden, der einer anderen Religion, Nation oder Ethnie angehört.“

Portrait von UNICEF-Gastautorin Emina Babić

Emina Babić ist 17 Jahre alt und engagiert sich im JuniorTeam in München.

© Emina Babić

„Du bist Muslimin? Du trägst doch gar kein Kopftuch!“

Ist diese Aussage nicht lächerlich? Ich wundere mich nicht, wenn einer sagt, dass er Christ ist, an Jesus‘ Geschichte glaubt und gerne in die Kirche geht, und doch die zehn Gebote nicht einhält. Jeder ist eine freie Person, darf sein Leben selbst gestalten und frei von religionsbedingten Vorurteilen anderer durch die Straße gehen. Sollte das nicht für jeden Menschen jeder Religionszugehörigkeit gelten? Die Antwort ist „ja“. Wir sind – in der Theorie zumindest – frei.

Doch etwas, wovon wir seit Ewigkeiten versuchen uns zu befreien, ist das Schwarz-Weiß-Denken. Egal, wie sehr wir versuchen uns von dem Schubladendenken zu befreien, es existiert in unseren Gedanken immer ein Stereotyp einer Person bestimmter Religion, Nationalität oder Weltanschauung.

Bosnien: Ein Teil von Eminas Heimatdorf mit Blick auf die Moschee.

„Džamija“ heißt Moschee auf Bosnisch. Hier seht ihr das hohe Minarett der Moschee meines Heimatdorfes.

© Emina Babić

Lernen wir einen Menschen kennen, so erfragen wir Informationen über die Lebensweise, Vorlieben und alle anderen Eigenarten. Darüber versuchen wir, auf den Charakter zu schließen. Oft spielt der Glaube der Person eine große Rolle. Welcher Religion sie angehört, sagt viel darüber aus, woran sie glaubt, wie sie lebt oder bestimmte Entscheidungen trifft. Daraus ergeben sich Erwartungen in Bezug auf das Handeln, die das Gegenüber hat. Es wird versucht, sich ein Bild von dem Charakter zu machen, diesen sozusagen einzurahmen.

…denn jeder Mensch ist seine eigene Kategorie

Wir vergessen dabei, dass man keinen Menschen auf seinen Glauben reduzieren darf. Jeder Charakter hat abertausende Facetten, die nicht immer benannt werden können. Würde man jedes Individuum kategorisieren, so würde es mehrere Milliarden von Kategorien brauchen – denn jeder Mensch ist seine eigene Kategorie.

Es ist bemerkenswert, wie Menschen andere Religionen meist nur durch Erzählungen des sozialen Umfelds und Geschichten aus den Medien wahrnehmen. Ich war nicht anders. In meinem Heimatland Bosnien und Herzegowina bin ich in einem muslimischen Dorf aufgewachsen.

Bosnien: Ein weiter Blick auf Eminas Heimatdorf.

Ein Blick auf das bosnische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.

© Emina Babić

Fünfmal am Tag den Gebetsruf zu hören, war für mich das Normalste auf der Welt

Und was noch für mich normal war? Andere Religionen nur passiv kennenzulernen. Ich habe lange nicht gewusst, dass man zu Weihnachten einen Weihnachtsbaum aufstellt. Wir haben einen Plastik-Tannenbaum im Dezember geschmückt, um das alte Jahr zu verabschieden. Ich habe nicht gewusst, dass man im Christentum zu Weihnachten Jesu Geburt feiert.

Bosnien: Emina auf dem Schoß von Djed Mraz, dem bosnischen Pendant zum Weihnachtsmann.

Im Dezember haben wir als Kinder immer Geschenktütchen vom „Djed Mraz“ (das heißt so viel wie „Väterchen Frost“) bekommen.

© Emina Babić

Wir haben auch nie Schwein gegessen. Ich bin einfach damit aufgewachsen, dass man das Tier nicht isst. Es gilt als unrein. Als ich mit acht Jahren nach Deutschland gekommen bin, war für mich alles anders und zugleich auch nicht. Es gab keine Moscheen mehr um mich herum und der Gebetsruf wurde zu einer Seltenheit. Denn vorher war es für mich das normalste der Welt, fünfmal am Tag den Gebetsruf zu hören. Jetzt muss ich immer die Zutatenliste der Fleischprodukte lesen, damit ich nicht aus Versehen Schwein esse.

Religion definiert nicht den Menschen

Wenn ich meinen Freunden und Verwandten aus Bosnien erzähle, welche Menschen ich hier in Deutschland kennengelernt habe, bekomme ich das Gefühl, dass es ihnen auf den Nägeln brennt zu wissen, welche Nationalität sie haben, wie sie aussehen und vor allem welcher Religion sie angehören. Klar, man könnte sich den Menschen dann viel besser vorstellen, wenn sich ein Bild von ihm machen lässt. Doch ist das alles nicht Schwarz-Weiß-Denken? Was ist mit dem Charakter des Menschen? Wie sieht es mit dem Verhalten aus? Ist das wichtig?

Es ist leicht, jemanden in eine Schublade zu stecken. Doch ihn da wieder herauszuholen, ist nicht einfach.

Emina Babić, 17 Jahre

Wenn du eine Frau mit einem Kopftuch siehst, weißt du dann sofort, wie sie tickt? Weißt du, welche Musik sie hört, welche Filme sie guckt oder womit sie ihre Freizeit verbringt? Könnte sie eine Feministin sein und sich für die Gleichberechtigung von Frauen einsetzen, obwohl sie nur ihr Gesicht zeigt?

Zudem sind die meisten meiner Freunde in Bosnien Muslime. Doch keiner ist wie der andere. Manche lieben es feiern zu gehen, andere leben für ihren Sport, viele lieben Bücher, einige die Kunst und alle sehen unterschiedlich aus. Natürlich, es sind alles Individuen. Doch alle haben denselben Glauben. Sie glauben an Allah, gehen in die Moschee und feiern das sogenannte Zucker- bzw. Opferfest. Und keine der Frauen wird gefragt, wo das Kopftuch abgeblieben ist.

Bosnien: Mitten im kleinen Kindheitsort von Eminas Mutter.

In dem kleinen idyllischen Dorf in Bosnien ist meine Mutter groß geworden.

© Emina Babić

Ein Mensch kann nicht nach seiner Religion beurteilt werden. Doch allein durch die Sprache in der Gesellschaft und durch die Konnotationen, die demnach entstehen, prägen wir die Wahrnehmung verschiedener Menschen. Besonders wenn es um die Religion geht. Das Wort „Gott“ nehme ich, wie manch anderer auch, sehr oft in den Mund. Meistens ist es ein einfaches „Oh mein Gott!“, womit ich je nach Tonfall meine Gefühlslage ausdrücke. Spontan stelle ich keine religiöse Bedeutung her. Es ist nur ein gewöhnlicher Ausruf geworden.

Wenn von Gott gesprochen wird, wen oder was meint man eigentlich?

Laut Duden wird Gott als das höchste gedachte und verehrte überirdische Wesen bezeichnet. Es steht über uns und wir geben uns ihm hin. Wie wir es uns vorstellen, ist rein subjektiv. Ob mein Gott eine Gestalt, ein Gesicht besitzt, kann ich nicht sagen – doch ich glaube an ihn.

Rückblick: Zurück in meine Kindheit

Oft habe ich es in Bosnien erlebt, dass mich ältere Menschen vor den anderen Religionen – vor allem vor orthodoxen Glaubensrichtungen – gewarnt haben. Ich sollte mich mit den anderen nicht anfreunden.

Die serbisch-orthodoxen Christen stellen ungefähr ein Drittel der bosnischen Einwohner. Aus geschichtlichen Gründen entstehen immer wieder Konflikte zwischen den serbisch-orthodoxen Christen und Muslimen. Ich habe damals nicht die Möglichkeit gehabt, die vermeintlich unfreundlichen Orthodoxen kennenzulernen, da ich noch ein Kind war und keine Kontakte außerhalb meines Dorfes hatte.

Bosnien: Der Blick auf ein bosnisches Dorf durch einen Torbogen.

Bild 1 von 2 | Ein paar Eindrücke aus meinem Heimatland.

© Emina Babić
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Bild 2 von 2 © Emina Babić

Von meiner Cousine habe ich aber etwas mitbekommen, was mich die Aussagen der älteren Generation glauben ließ. Sie hatte in einem Krankenhaus in einem Teil Bosniens, der überwiegend von orthodoxen Serben bewohnt war, gearbeitet. Ihre meisten Arbeitskollegen waren Orthodoxe und die wenigsten hatten Verständnis dafür, dass sie Muslimin war. Sie wurde von ihren Kollegen und Kolleginnen gemobbt. Nur aufgrund ihrer Religion. Als ich das gehört hatte, habe ich es als Kind tatsächlich einfach hingenommen, dass es eben gute und böse Menschen gibt. Doch je älter ich wurde, desto absurder wurde mir diese Theorie.

Keiner ist geboren, um zu hassen

Keiner lehnt andere wegen ihrer Religion ab. Es liegt an unseren Erfahrungen. So ist es auch bei meinen Vorfahren. In den 1990ern tobte in Jugoslawien ein schrecklicher Krieg. Jeder Staat wollte seine Unabhängigkeit und es herrschte – wie leider oft – ein Kampf um Machtverhältnisse. Unter anderem gehörte der Bosnienkrieg auch zu den Jugoslawienkriegen. Hauptsächlich haben die bosnischen Serben um die Gebiete Bosniens, die unter anderem von Bosniaken bewohnt waren, gekämpft.

Viele Muslime wurden grausam ermordet, Frauen vergewaltigt und weitere aus ihrer Heimat vertrieben. Klar, zu einem Konflikt gehören immer zwei, doch die Zahlen sagen aus, dass die Opfer des Kriegs weitgehend Bosniaken muslimischen Glaubens waren und immer noch sind. Dass der Hass und die Wut auf die andere Nation, auf die andere Ethnie während des Kriegs wuchs, ist wohl für jeden nachvollziehbar. Doch er hält immer noch an. Selbst über 20 Jahre nach dem Krieg kann ich ihn spüren.

Das Elternhaus meiner Mutter wurde zerstört, wenige Habseligkeiten sind heil geblieben. Mein Großvater musste aus seinem Dorf, das von Serben besetzt wurde, fliehen. Seine Kinder haben lange nichts von ihm gehört, hatten keine Gewissheit, ob es ihm gut geht oder ob er überhaupt noch am Leben ist. Einige meiner Verwandten habe ich nie kennenlernen können. So eine Zeit hinterlässt Narben. Nicht nur die langzeitigen physischen Schäden, die viele davongetragen haben, sondern auch seelische. Wie soll man wieder einer Menschengruppe vertrauen, die für das Leiden damals verantwortlich war? Darf man weiterhin hassen? Verachten? Darf man an Versöhnung denken? An Vergeben?

Bosnien: Die Ruinen des zerstörte Elternhauses von Eminas Mutter.

Ein Blick in das Dorf, in dem meine Mutter aufgewachsen ist und das im Jugoslawienkrieg größtenteils zerstört wurde.

© Emina Babić

Ich kann die Sorge und die gut gemeinten Ratschläge meiner Verwandten nachvollziehen. Ihre Narben sind immer noch frisch. Doch wie soll ich damit umgehen? Ich habe diese ethnischen Konflikte nicht an meiner eigenen Haut erlebt. Wäre ich davon betroffen, wenn ich weiterhin in Bosnien geblieben wäre?

Ich habe gelernt, wie wichtig es für uns junge Menschen – in gewisser Weise die Nachkriegsgeneration – ist, miteinander zu kommunizieren, uns auszutauschen und so Konflikten vorzubeugen, die aufgrund von Vorurteilen, von unserem Schwarz-Weiß-Denken entstehen.

Emina Babić, 17 Jahre

Wir müssen diese Denkgewohnheiten brechen. Es ist Zeit, Farbe in das Leben zu bringen. Menschen sind alle unterschiedlich. Keiner ist wie der andere. Wenn du mich wahrnimmst, dann bitte auch alle Facetten, die mich ausmachen!

Egal ob Jude, Muslim, Christ, Hindu, Buddhist, bekenntnislos, oder was auch immer du als deine Konfession angibst. Deine Religion sagt nichts über deinen Charakter aus. Es gibt keinen, der mehr oder weniger wert ist nur, weil er an etwas glaubt oder eben nicht. Und kein Glauben sollte die eigentliche Persönlichkeit in den Schatten stellen. Nimm den Menschen nicht als Teil einer Gruppe wahr, sondern als ein Individuum.

Lasst uns alle Stück für Stück eine Welt kreieren, in der jeder in seinem Farbspektrum leben darf und keiner jemanden in Schwarz-Weiß sieht, denn nur so können wir alle in Frieden koexistieren.

Portrait von UNICEF-Gastautorin Emina Babić
Autor*in Emina Babić

Emina Babić ist 17 Jahre alt und engagiert sich im JuniorTeam in München.