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Was Kinder niemals sehen sollten


von Christian Schneider

Wer weiß, was alles hinter diesem Bild steckt, welche Zerstörung, welches Leid, wie viele Tote?

Kinderzeichnung Syrien

„Ich habe das alles gesehen, ich war dabei“, sagt die achtjährige Samia aus Syrien. Akribisch zeichnet sie noch das Dach des Hauses, in das bereits die ersten Granaten einschlagen. Vor dem Gebäude steht ein Mensch im Kugelhagel. Der Krieg hat Einzug gehalten in die Idylle, für die am Bildrand noch die strahlende Sonne und links ein Obstbaum mit roten Früchten stehen. Aber vorbei: Seit Monaten gehen Hunderttausende Kinder in Syrien abends mit der Angst ins Bett und stehen morgens mit der Sorge auf, dass ihren Eltern, ihren Geschwistern, ihren Freunden oder ihnen selbst etwas geschehen könnte.

Gewalt buchstäblich nachgezeichnet

Was mit einzelnen Gefechten begann, artete aus zu den furchtbaren Massakern in einzelnen Orten. Jetzt ist die Gewalt längst in Damaskus angekommen. Täglich erleben Tausende Kinder in der Hauptstadt, in Aleppo und anderen Orten Dinge, die nie auch nur ein Kind erleben sollte. Wir haben die schrecklichen Fotos und Filme von getöteten Jungen und Mädchen gesehen, hören Berichte über Folterungen und den Missbrauch von Kindern für die Kämpfe. Als ich auf die Kinderzeichnung von Samia stieß, dachte ich: Wie kann es sein, dass mich diese Kinderbilder so sehr durch meine Zeit bei UNICEF verfolgen? Kein Jahr, ohne dass in einem neuen Krisengebiet Kinder durch die Hölle der Gewalt gehen und später, oft mit Hilfe von UNICEF, beginnen, ihre Gewalterlebnisse buchstäblich nachzuzeichnen. Kosovo, Uganda, Sudan, Sierra Leone, jetzt Syrien: Wieder kommen die verzweifelten Mütter mit ihren verstörten, oft an Körper und Seele verletzten Kindern an den Grenzen an. Etwa 120.000 Menschen haben sich aus den umkämpften Gebieten gerettet, hoffen in Jordanien, im Libanon, in der Türkei oder im Irak auf Sicherheit und Hilfe.

Es fehlt am Nötigsten

Und wieder ist es so: Fast die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche, ohne das Nötigste zum Überleben, aber beladen mit ihren traumatischen Erinnerungen. „Die Situation verändert sich ständig“, sagt der Leiter der UNICEF-Programme für die Kinder in Syrien, Youssouf Abdel-Jelil, „aber die Nöte der Kinder und ihrer Familien, die durch die Gewalt der letzten Tage vertrieben wurden, sind enorm.“ Es fehlt an Nahrung, Trinkwasser, den wichtigsten Dingen des Alltags, weil die Menschen unter dem Beschuss und inmitten der Kämpfe ihre Häuser verlassen mussten. Insgesamt sind 1,5 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Hilfe vor Ort

UNICEF tut, was unter den schwierigen Umständen möglich ist, innerhalb des Landes wie an den Grenzen, teils unter erheblichen Gefahren für die Fahrer und Helfer.

Jordanien gehört zu den Ländern, in denen die Zahl der Flüchtlinge in den letzten Tagen stark angewachsen ist, mindestens 4.500 kamen allein in der vergangenen Woche an. Im Lager Za’atari hat UNICEF mobile Toiletten eingerichtet, Duschen, Wassertanks, hilft mit Hygieneartikeln und vielem mehr. Die UNICEF-Kollegen bauen auch Zelte auf, die als sichere Spielzonen für die Kinder dienen.

Zu den Jungen und Mädchen, die nach Jordanien fliehen konnten, zählt auch die achtjährige Samia. Jeden Tag kommen jetzt viele weitere Kinder, die im Kopf Bilder mitbringen wie ihres. Bilder, die kein Kind sehen sollte.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.