Teil 2: Klinikbesuch

Mein Reisetagebuch Afghanistan


Von Maria von Welser, Stellv. Vorsitzende UNICEF Deutschland

Juli 2012 - „50 Afghanen – 50 Meinungen!“ Genervt erklärt mir unserer wunderbarer Fahrer Muhammad Omar, warum wir seit über einer Stunde die Jalalabad Road rauf und runter fahren, aber den UN Compound einfach nicht finden. Nun gibt es auch keine Schilder, keine Hausnummern. Überall Stacheldraht und Sicherheitsleute. 17 Mal telefoniere ich mit dem UNICEF-Büro, eine afghanische Mitarbeiterin versucht Muhammad zu erklären, wo die schmale Einfahrt ist in das riesige Gelände, wo sich die Vereinten Nationen und ihre Mitarbeiter in Afghanistan niedergelassen haben. Endlich tut sich eine holprige, schmale Einfahrt auf. Drei Sicherheitsschleusen müssen durchfahren und durchgangen werden, dann erst sehe ich das UNICEF-Zeichen. “We made it!“ Peter Crowley ist der UNICEF-Repräsentant in Afghanistan. Sein Etat: 120 Millionen Dollar im Jahr. Für Gesundheits-, Ernährungs- und Bildungsprojekte in Afghanistan. In einer knappen Stunde erhalte ich ein umfassendes Briefing. Dann stemmen wir die schweren Türen der gepanzerten UN-Autos auf, und los geht es nach Norden.
In die Mädchen-Schule, die von UNICEF mit unterstützt wird, kommen wir zu spät. Es ist Examenszeit, die Mädchen sind alle schon nach Hause. Aber die Kinder, die wir in einem anderen kleinen Ort in einer Klinik finden, die können nicht weg laufen.

Über 50 Prozent der Kinder in Afghanistan sind zu klein.  ©UNICEF/von Welser

Über 50 Prozent der Kinder in Afghanistan sind zu klein, weil sie zu wenig zu essen bekommen - so wie dieser 2-jährige Junge in der Provinz Parwan.

© UNICEF/von Welser

Die winzige Chausa mit den übergroßen dunklen Augen ist schon vier Monate alt. Aber sie wiegt nur ganze zwei Kilogramm. Das kleine Mädchen in der Klinik in der Provinz Parwan gehört zu den über 50 Prozent afghanischer Kinder, die zu klein sind, die nicht wachsen. Weil sie zu wenig zu essen bekommen. Weil die Mütter keine Milch haben. Weil sie „mangelernährt“ sind. Chausas Mutter ist seit sieben Tagen mit der Kleinen im Krankenhaus. Die Ärzte füttern das winzige Baby mit sogenannter „therapeutischer Spezialnahrung“. Finanziert von UNICEF. 20 Tage dauert im Durchschnitt so eine Notfalltherapie.

Chausa wird überleben. Sagen zumindest die Ärzte. Das hofft auch ihre Mutter Amina. Sie erzählt mir aber auch: “Ich mache mir große Sorgen um meine anderen fünf Kinder.“ Die werden jetzt Zuhause von der 14-jährigen Tochter versorgt.
Es ist in Afghanistan immer noch normal, dass 14-jährige Mädchen nicht mehr in die Schule gehen, sondern der Mutter zu Hause helfen. Wenn sie nicht schon vom Vater früh verheiratet wurden. Doch immer mehr junge Frauen wehren sich. Auch gegen ihre Väter. Die 23-jährige Physiotherapeutin Farchunda Nesjatu hat Glück. Ihre Eltern, erzählt sie, haben sie ermutigt, einen Beruf zu erlernen. Ihr Vater würde sie nie gegen ihren Willen verheiraten, beteuert sie. „Aber es ist schwer, in Afghanistan einen Mann zu finden, der eine berufstätige Frau akzeptiert“, fügt sie dann noch lachend hinzu. Sie kümmert sich liebevoll um die winzigen, unterernährten Babys in der Klinik. Aber vor allem unterstützt sie die Mütter. Die zusammen mit ihren Kindern Tage und Wochen in einem einzigen Bett liegen. Die ihre Babys trösten, sie stillen, wenn sie genug Milch haben, und die verzweifelt hoffen, dass ihre Kinder durchkommen.

Wobei es in Afghanistan schon ein kleines Wunder ist, wenn die Mütter überhaupt die Geburt eines Kindes überleben. Das Land am Hindukusch hat weltweit die höchste Müttersterblichkeitsrate. Dass ein Kind seinen fünften Geburtstag erlebt, ist großes Glück. 30 Jahre Krieg haben ein zerstörtes Land hinterlassen.

Da ist es kein Wunder, wenn vor allem junge, gut ausgebildete Afghaninnen raus wollen aus Afghanistan. „Brain drain“, der Weggang der Intelligenz, ist inzwischen ein Alarmsignal für die Regierung. Zum Beispiel die 20-jährige Adiba und ihre 14-jährige Schwester Sabrina aus Charikar. Geprägt von der Gesellschaft, lassen sie sich von unserem Fotografen nicht von vorne ablichten. Sie tragen große Tücher um den Kopf und um die Schultern, den Hidschab. Sie gehen begeistert in die Schule, eine gute Ausbildung ist ihr Ziel. Und ein Beruf, von dem sie sich eines Tages ernähren können. Auch, wenn es sein muss, im Ausland. Die Mutter Safia aber geht nur in der Burka einkaufen. “Ich habe sie früher nicht getragen, weil ich davon immer Kopfschmerzen bekommen habe.“ Aber die Nachbarn haben sich den Mund über sie zerrissen. Seitdem zieht sie wieder dieses blaue Totalgewand mit dem kleinen netzartigen Augenausschnitt über ihren Kopf, um sich vor männlichen Blicken zu verhüllen. Die beiden Schülerinnen laden mich zu sich nach Hause ein. Ihre Mutter Safia freut sich. Wir sitzen ohne Schuhe bei ihr auf dem Boden. Weil wir nur Frauen sind, umhüllt sie ihr dunkles Haar nur noch mit einem Tuch. Auch die Mädchen ziehen sich hübsch an und legen dann sogar ihre Tücher beiseite. Auf meine Frage, ob sie auch später eine Burka tragen würden, schütteln sie energisch den Kopf und lachen mich an. Ich wünsche ihnen, dass sich diese jungen Frauen eines Tages besser in der Männer-Gesellschaft durchsetzen können als ihre Mutter jetzt.

Afghanische Gastfreundschaft heißt auch immer: große Teller und Schüsseln. Auch wenn der Gast, wie ich, unangemeldet ins Haus gebeten wird. Schnell steht ein riesiger Teller mit herrlichen Wassermelonenstücken vor mir auf dem Boden. Die anderen sehen zu, während ich esse. Nicht alles aufessen, das ist der Brauch. Sonst wird sofort noch mehr aufgetischt.

Adiba und Sabrina machen Mut. So wie 20 andere Mädchen im Jugend-Kontakt-Zentrum in Parwan. Auch dies unterstützt UNICEF. Sie gehen in die Familien. Wollen die Eltern überzeugen, ihre Mädchen länger als bisher in die Schule zu schicken. Damit die einen Schulabschluss machen und einen Beruf erlernen.

Die 16-jährige temperamentvolle Rakhsar erzählt von einem erst uneinsichtigen Vater: “Eine Stunde musste ich auf ihn einreden, damit er seine Tochter wieder in die Schule schickt“, erzählt sie mit blitzenden Augen. Dann sei sie richtig wütend geworden. Kaum zu glauben, wenn man die patriarchale Gesellschaft in Afghanistan zu kennen glaubt. Aber Rakhsar hat Power, ist durchsetzungsstark und will eines Tages Journalistin werden. Und: aufgeben gilt nicht. Schon gar nicht im Afghanistan der jungen Frauen. Die Rückfahrt dauert lange. Von Verkehr am späten Nachmittag kann man nicht reden, das ist der totale Stillstand. Denn viele Fahrer brechen einfach aus, kehren im Pulk um und fahren entgegen der Richtung der anderen.


Maria von Welser ist freie Journalistin und stellvertretende UNICEF-Vorsitzende. Das Reisetagebuch aus Afghanistan erscheint als ihr persönlicher Beitrag, der nicht der Meinung von UNICEF entsprechen muss.

Reisetagebuch Maria von Welser

» Teil 1: Ankunft in Afghanistan
» Teil 2: Klinikbesuch
» Teil 3: Mutiger Kampf für mehr Frauenrechte
» Teil 4: Im Flüchtlingslager
» Teil 5: In einer Männergesellschaft

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