Webinar in Göttingen am 30. April 2021

»Wie wirkt sich Gewalt auf die Entwicklung von Kindern aus?«

Notizen von unserem Web-Seminar am Tag der gewaltfreien Erziehung, dem 30. April 2021: Impulsvorträge und Gespräche zu der Situation allgemein und speziell im Raum Göttingen. UNICEF Göttingen lud ein zu dieser Veranstaltung von 15:30 bis 18:00 Uhr.

Stefanie Griebel von der UNICEF-Arbeitsgruppe Göttingen begleitete durch die Veranstaltung. Mit einer Einführung in die Thematik informierte Dr. Hans-Joachim Merrem, Leiter der UNICEF-Arbeitsgruppe Göttingen, über Ziele und Aktivitäten von UNICEF im Rahmen der Kampagne #Niemals Gewalt. So setzt sich UNICEF für die Aufnahme der Kinderrechte in die Verfassung ein und sensibilisiert für die pandemie-bedingte Verschärfung nahezu aller Probleme, mit denen Kinder und Jugendliche konfrontiert sind. Auch anhand statistischer Daten wurde gezeigt, dass der Bedarf für Veränderung keineswegs subjektiver Natur ist.

Fünf spannende Vorträge

– Maren Kolshorn, Psychologin, Vorstand Frauen Notruf Göttingen und phoenix Göttingen,
– Michael Stechbart, Kinderschutzbund Göttingen,
– Dr. Andreas Becker-Isensee, Leitender Dipl.-Psychologe, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsmedizin Göttingen,
– Christian Hölscher, Leiter der Jugendhilfe Göttingen,
– M. A. Stephan Jürgenliemk, Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut in freier Praxis und Lou Andreas-Salomé Institut in Göttingen,

informierten in der Vortragsrunde mit jeweils einem kurzen Impulsvortrag (10 Min) über ihre Arbeit und die Situation der Kinder und Jugendlichen, insbesondere im Raum Göttingen. Als praxiserfahrene Sprecher bekannter Göttinger Gruppen verdeutlichten sie ganz verschiedene Aspekte zu ihrer Arbeit mit problembelasteten Kindern, darunter diese:

– Maren Kolshorn vom Frauen Notruf und von phoenix Göttingen machte darauf aufmerksam, dass es vor 30 Jahren zu Beginn ihrer Arbeit über sexualisierte Gewalt an Mädchen und Jungen kaum mehr als 3 Bücher zu dieser Thematik in Deutschland gab – was heute hingegen kein Tabu-Thema mehr ist.
Aber es bedarf einer Korrektur beim Blick auf Täter: die meisten von ihnen sind keineswegs als psychisch kranke Menschen, auch nicht als Pädophile einzustufen. Die Familie ist nicht der vermeintlich sichere Ort. Und wenn ein Kind den Satz gehört hat: "Wenn du das erzählst, kommst du ins Heim", kann aus Sicht des Kindes eine Befürchtung resultieren, die begründet ist.
Dass wir immer noch am Anfang stehen, zeigen auch massive Defizite im Expertenwissen: In keiner Ausbildung, etwa in den Bereichen Kita, Schulwesen, Gesundheitswesen oder Jura, ist der hier angesprochene, schwierige Sachverhalt verankert.
– Dr. Andreas Becker-Isensee von der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik stellt fest, das ein gewalttätiges Kind immer in einem Elternhaus mit Gewalt aufwächst. Doch Gewalt wird unter Umständen gar nicht als solche – weder vom Kind noch von den Beteiligten, noch von Außenstehenden – wahrgenommen, denn emotionale Gewalt geschieht oft unter dem Deckmantel der Fürsorge.
Sexuelle Gewalt wird zumeist erst sekundär freigelegt, ist also eher kein Anlass, einen Psychologen zu konsultieren, unter anderem verhindert Scham eine solche Kontaktaufnahme.
– Christian Hölscher von der Jugendhilfe Göttingen nahm Bezug auf bekannte soziale Brennpunkte in Göttingen, die unter anderem auch in Zusammenhang mit dem Pandemie-Auftreten in den Medien waren. Die Erfahrung lehrte dem Team von Christian Hölscher: nicht zu darauf zu warten, dass Hilfesuchende kommen, sondern direkt in die Brennpunkte gehen und präsent sein, Streetwork machen, Anlaufstellen schaffen.
Ein Dilemma muss dabei gehandhabt werden: Information kommt erst dann, wenn es schon zu spät ist.
Gerade deshalb sind Hilfsangebote ganz nah: Direkt im Iduna-Zentrum gibt es eine Anlaufstelle mit 150 qm Fläche, wo unter Einhaltung aktueller Hygieneregeln Familienhilfe angeboten wird. Nah am Brennpunkt Groner Landstraße gibt es ein Jugendhaus, wo zugewanderte Kinder aus Südost-Europa in ihrer Muttersprache unterstützt werden.
– Stephan Jürgenliemk berichtete aus seiner Praxisarbeit als Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut über traumatisierte Kinder, weist hin auf Forschungsergebnisse unter anderem in der Säuglingsforschung, der Bindungsforschung, der epigenetischen Regulation und Programmierung sowie über den Zusammenhang von Urvertrauen und Stressbewältigung. Als ein konkretes Beispiel hierzu schildert er anschaulich die therapeutische Arbeit mit einem mittelschwer traumatisierten 9-jährigen Jungen, der, wie so viele traumatisierte Kinder, unter massiven Schuldgefühlen litt.
– Michael Stechbart vom Kinderschutzbund Göttingen macht auf das überaus breite Spektrum, welches der Gewalt-Begriff einnimmt, und auf die unterschiedlichen Ebenen, in denen Gewalt eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielt, aufmerksam.
Im BGB, dem Bürgerlichen Gesetzbuch, § 1631, Abs. 2, vom 02.11.2000 steht »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Im alltäglichen Leben aber mag selbst eine Kleinigkeit wie die Verweigerung, die warme Jacke vor dem Weggehen anzuziehen, einen erwachsenen Menschen an die Grenze der Gewaltlosigkeit bringen ... Jeder kennt diese Erfahrung.
Am anderen Ende des Spektrums stehen institutionelle Gewalt und strukturelle Gewalt und auch hier wird die Grenze der Gewaltlosigkeit nur zu rasch erreicht, wenn beispielsweise in der Politik das »harte Durchgreifen« gefordert wird, weil es doch vermeintlich Sicherheit bringt.

Fünf Gruppengespräche parallel und ein
Abschlussgespräch

– Nach den spannenden Berichten wurde in fünf parallelen Gesprächskreisen, so genannten Breakout Sessions, zu dem jeweiligen Thema der ReferentInnen ein reger Austausch mit allen Teilnehmenden möglich gemacht.
– Am Ende unserer Veranstaltung wurde in einem gemeinsamen Plenumsgespräch darauf hingewiesen, dass schon bei einem Verdacht auf Kindeswohl-Gefährdung das Jugendamt informiert werden kann, welches unter Einhaltung der Schweigepflicht an Fachdienste vermittelt – dies als ein wichtiger Anhaltspunkt bei Handlungsbedarf.
Abschließend wurde noch einmal festgestellt, dass die Göttinger Akteure hervorragend vernetzt sind, was hierzulande keine Selbstverständlichkeit sei. Regionale Akteure sind unter anderem
» phoenix – Kinder- und Jugendberatung bei sexueller und häuslicher Gewalt
» Frauen-Notruf Göttingen
» Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsmedizin Göttingen
» Jugendhilfe Göttingen
» Lou Andreas-Salomé Institut, Göttingen
» Kinderschutzbund Göttingen
» Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) der Stadt Göttingen
» Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD) des Landkreises Göttingen

UNICEF-Kampagne #Niemals Gewalt:
» #NiemalsGewalt: Das wollen wir erreichen
» im UNICEF-Blog: "Positive discipline": Tipps für einen positiven Erziehungsstil
» im UNICEF-Blog: Gewaltfreie Erziehung Sprüche: Gedanken eines Papas
» Niemals Gewalt gegen Kinder!
» UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland 2021

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WIR BEDANKEN UNS FÜR DAS INTERESSE UND
BEI ALLEN, DIE GEKOMMEN SIND UND MITGEMACHT HABEN

Die Veranstaltung wurde von der UNICEF-Arbeitsgruppe, der UNICEF-Hochschulgruppe und vom UNICEF-JuniorTeam aus Göttingen ehrenamtlich organisiert.

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