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Gegen das Schweigen: So ist es in der Jugendhilfe aufzuwachsen.

„Und wie ist es so, in einem Kinderheim aufzuwachsen? Mit was für Menschen lebst du dort eigentlich zusammen? Wer kümmert sich überhaupt um dich, wenn du nicht bei deiner Familie wohnst? Das tut mir so leid für dich.“: All das sind Fragen und Aussagen, die ich oft hörte, während ich in der Jugendhilfe gelebt habe.

Mit 15 Jahren kam ich nach einem Klinikaufenthalt in eine Schutzstelle. Danach ging es in eine vollbetreute Wohngruppe und nach etwa einem Jahr in eine weniger betreute Wohnform. Während meines Abiturjahres wohnte ich schließlich in einer eigenen Wohnung, wo ich weiterhin von Betreuer*innen pädagogisch und finanziell unterstützt wurde. Derzeit werde ich ambulant nachbetreut. Heute werde ich zu Sonja fahren, ich kenne sie aus meiner Zeit in der Jugendhilfe. Zusammen haben wir etwa ein Jahr lang in einem Zimmer gewohnt. Wir sind sozusagen Insiderinnen: Wir kennen das Jugendamt, das Jugendhilfesystem mit seinen Chancen und Schwächen. Gemeinsam werden wir über das deutsche Jugendamt, unsere Erfahrungen damit und die Chancen der UNICEF-Deutschland Kampagne #NiemalsGewalt sprechen.

Das Jugendamt

Beim Gedanken an das Jugendamt kommen einem vermutlich strenge Erwachsene mit Klemmbrett, „die Kinder wegnehmen“ in den Sinn. Klingt sehr unangenehm und entspricht auch nicht der Wahrheit. Das Jugendamt setzt sich für Kinder in Deutschland ein. Es wird immer genau dort aktiv, wo Kinder verschiedenen Gefahren ausgesetzt sind und dringend Unterstützung brauchen: zum Beispiel in Armutssituationen, nach einer Flucht nach Deutschland, bei Überforderung der Eltern, bei Drogen- und Alkoholmissbrauch. Jugendämter findet man in jeder Stadt und in den Landkreisen. Die Zuständigkeit variiert dabei je nach Wohnort. Es gibt verschiedene Hilfsangebote. Grundsätzlich wird zwischen ambulanten und stationären Hilfen unterschieden. Ambulante Unterstützung erfolgt durch Beistandschaften für Eltern, Familientherapien und einfache Beratungsmöglichkeiten. Stationäre Maßnahmen erfolgen in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Zum Beispiel in Form von Wohngruppen für junge Heranwachsende. In den Wohngruppen leben oftmals 6-8 gleichaltrige Kinder und Jugendliche, die zur Schule gehen, eine Ausbildung machen und gemeinsam aufwachsen. Gemeinsam bestreiten sie ihren Alltag: Kochen, putzen, einkaufen und Hausaufgaben machen. Und sie verbringen auch ihre Wochenenden und Freizeit zusammen.

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#NiemalsGewalt

© UNICEF/UN0366736/Knecht

Es gibt auch eine schnelle Lösung in Krisenfällen. Eine Inobhutnahme zum Beispiel: Junge Heranwachsende werden so außerhalb der Familie und dem bestehenden Spannungsfeld untergebracht. Die Inobhutnahme kann durch die gefährdeten Kinder bzw. Jugendlichen selbst initiiert werden, zum Beispiel per Anruf beim Kinderschutz. Die Eltern können auch auf rechtlicher Ebene nicht eingreifen und die Inobhutnahme rückgängig machen. All das hat nichts mit gefühllosen, strengen Erwachsenen, kalten Besprechungsräumen und „wegnehmen“ zu tun. In erster Linie hilft das Jugendamt, basierend auf rechtlichen Grundlagen und festgeschriebenen Prozessen, jungen Heranwachsenden die Hilfe brauchen.

Der Hilfeprozess

Nun stellt sich für einige die Frage: Wie läuft so ein Hilfeprozess beim Jugendamt eigentlich genau ab? Was passiert, wenn ein junger Mensch beschließt, sein Elternhaus zu verlassen und in die Jugendhilfe zu ziehen.

Im ersten Schritt meldet sich das Kind eigenständig beim Jugendamt oder das Jugendamt wird von selbst aktiv. Das erfolgt immer dann, wenn ein richterlicher Beschluss vorliegt. Dann finden Beratungsgespräche statt, in welchen die ambulanten und stationären Hilfsmöglichkeiten vorgestellt und individuell erörtert werden. Schlussendlich wird dann entschieden, wie dem Kind am besten geholfen werden kann. Es werden Formulare ausgefüllt, die Maßnahmen amtlich beantragt und letztendlich in der Praxis eingeleitet und umgesetzt.

All das klingt in der Theorie recht einfach, schnell und unkompliziert, entspricht jedoch oftmals nicht der Realität. Sonja berichtet in unserem gemeinsamen Gespräch vom Beginn ihres Hilfeprozesses vor einigen Jahren: „Bis ich stationär in einer Wohngruppe untergebracht wurde, hat es ewig gedauert. Mit 12 Jahren hatte ich das Gefühl, nicht gehört und wirklich ernstgenommen zu werden.“ Als ehemalige Mitbewohnerin und als Person, die den Prozess ebenfalls durchlaufen hat, kann ich Sonjas Gefühle und ihre Aussage sehr gut nachvollziehen. Man muss wirklich sehr dahinter und vor allem bemüht sein, dass sich der Prozess nicht in die Länge zieht. E-Mails schreiben, zuständige Personen anrufen und nachfragen, wie der aktuelle Stand ist, Kontakte herstellen und stets dranbleiben. Vor allem der Zeitraum vor der Hilfe kann sich durch langwierige bürokratische Prozesse und Vorgänge in die Länge ziehen.

Trotz dieser und vieler anderer Schwierigkeiten sind wir beide sehr dankbar für das deutsche System und das Jugendamt. Dankbar dafür, dass es in brenzligen Situationen auch ein staatlich unterstütztes Auffangnetz und einen Schutzraum für junge Menschen gibt. Und zu guter Letzt: Dankbar dafür, dass wie uns kennenlernen durfte, als Mitbewohnerinnen, Freundinnen und nicht-biologische Schwestern.

Unsere Wünsche

Sonja und ich tauschen uns an diesem Abend auch über unsere Wünsche für die Kinder in Deutschland aus und wir sprechen darüber, was konkret getan werden müsste, damit Kindern in kritischen familiären Situationen noch schneller geholfen werden kann.

Wir stellen fest: Erwachsene sollten mehr auf Kinder hören. Kinder sollten ernst genommen und auf gar keinen Fall ignoriert werden. Besonders wichtig: auf Kinder individuell eingehen, wenn es darum geht, dass sie Hilfe bekommen. Das Elternrecht ist in Deutschland kaum anfechtbar und die Meinung der Eltern wird oftmals mehr respektiert und gehört als die der leidenden Kinder. Entscheidungsträger*innen vom Jugendamt sollten unserer Meinung nach zuerst mit den Kindern sprechen und dann erst mit der Familie. Denn: Wenn ein Kind depressiv ist, schlechte Noten hat, kaum zur Schule geht, weniger isst und allgemein abwesender wirkt, können das oft auch Zeichen dafür sein, dass etwas im familiären Umfeld nicht stimmt. Dann sollte besonders auf das Kind eingegangen werden, ihm Zeit und Gehör geschenkt und das Gespräch gesucht werden. Unserer Erfahrung nach gibt sich das Jugendamt oft auch mit Ausreden der Eltern zufrieden. Hier darf sich nicht nur auf die elterliche Perspektive verlassen werden.

Darüber hinaus wünscht sich Sonja Folgendes: „Wenn es einem Kind nicht gut geht und man es als Außenstehende*r bemerkt, sollte man auf die Autoritäts- und Bezugspersonen im Umfeld des Kindes zugehen. Die können oftmals viel zum Kind selbst und dem Verhalten sagen: Wie verhält sich das Kind in der Schule? Gibt es Auffälligkeiten oder starke Veränderungen im Verhalten des Kindes? Ich glaube, dass Lehrkräfte und Psycholog*innen mehr helfen können und allgemein in so einer Situation neutraler sind als die Eltern des betroffenen Kindes.“

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#NiemalsGewalt

© UNICEF/UNI394312/Kelly

Für die Kinder, die mitten im Hilfeprozess stecken, wünschen wir uns, dass mehr auf ihre Wünsche und Bedürfnisse eingegangen wird. Mit 15 Jahren wurde ich fast in eine Pflegefamilie in Wasserburg am Inn geschickt. Zwar wurde ich sehr kurzfristig in die Jugendhilfe aufgenommen und es gab damals kaum freie Plätze in München, aber: Mein gewohntes Umfeld, meine Freunde, Schule und mein Tennisclub waren in München. Binnen 24 Stunden in eine fremde Stadt zu ziehen, auf eine neue Schule zu gehen und damit eine sehr schnelle Umstellung von heute auf morgen hätte ich in der Situation nicht gut verkraftet. Zum Glück fand sich an dem Nachmittag spontan noch eine alternative Unterbringungsmöglichkeit in einer Schutzstelle im Münchner Osten. Ich hatte also großes Glück.

Die UNICEF "Niemals Gewalt" Kampagne

Im Austausch über die „Niemals Gewalt“ Kampagne stellen Sonja und ich schnell fest, dass sie viele Chancen bietet und dass dadurch viele Menschen direkt erreicht werden können.Wir begrüßen es sehr, dass UNICEF Deutschland eine Kampagne gestartet hat, die denjenigen eine Stimme gibt, die normalerweise unsichtbar erscheinen: Nämlich den Kindern, die zu Hause unter Gewalt leiden und dringest Unterstützung sowie eine helfende Hand brauchen. Das ist sehr wichtig!

Es ist die gesellschaftliche Pflicht, jungen Menschen zu helfen, damit Kinder ihre Jugend in vollen Zügen genießen können, damit sie gehört werden und sorglos ohne Gewalt aufwachsen können. Das wünschen wir uns beide vom ganzen Herzen. Vielleicht kann die Kampagne dazu beitragen. Sie kann die Gesellschaft für dieses wichtige Thema sensibilisieren, Informationen wie Studienergebnisse, Adressen von Anlaufstellen und wichtige Telefonnummern für betroffene und gefährdete Kinder und Jugendliche bereitstellen.

An dieser Stelle möchte ich außerdem auf diverse Anlaufstellen und Telefonnummern verweisen. Falls Sie/du selbst betroffen von Gewalt sind/bist, wende/n Sie/dich sich bitte an Fachpersonen und versuche/n Sie es nicht alleine durchzustehen. Eine helfende Hand ist oftmals nur ein Anruf oder ein Gespräch entfernt. Sie sind stark und nicht alleine.

Zu guter Letzt: Vielen Dank an Sonja. Für deine Offenheit, dein Vertrauen und vor allem deinen Mut, deine Geschichte furchtlos zu erzählen und gegen das Schweigen anzukämpfen.

Text: Claudia Enk