© UNICEF/UN0399562/FilippovUkraine: Valia (15) ist von zu Hause weg gelaufen.
Meinung

Psychische Gesundheit in Zeiten von Corona und Instagram: Das sagen drei Jugendliche über ihr Mindset

Am 10. Oktober war der Welttag für psychische Gesundheit: Was bedeutet mentale Gesundheit für Kinder und Jugendliche?  In unserem Blog haben wir uns dazu mit drei Jugendlichen unterhalten.


von Ninja Charbonneau

Kurz vor dem Welttag für psychische Gesundheit hat UNICEF einen Bericht über "mental health" von Kindern und Jugendlichen weltweit veröffentlicht. Ich habe aus diesem Anlass mit drei Jugendlichen gesprochen, die sich im "JuniorBeirat" von UNICEF Deutschland engagieren und wollte von ihnen wissen: Wie geht es ihnen mitten in der Corona-Pandemie? Ist mentale Gesundheit immer noch ein Tabu-Thema? Und sind soziale Medien eher gut oder Gift für psychische Gesundheit?

Aike, Anh-Thu und Marisol aus dem UNICEF-JuniorBeirat.

Aike, Anh-Thu und Marisol engagieren sich im UNICEF-JuniorBeirat.

© privat

Wenn wir über das Thema mentale Gesundheit, seelische oder auch psychische Gesundheit sprechen, was verbindet ihr mit dem Begriff, was versteht ihr darunter?

Anh-Thu (16 Jahre, Lippstadt): Für mich bedeutet mentale Gesundheit, dass dort alle meine Sorgen und Glücksmomente einfließen und mein "Mind Set" beeinflussen.

Marisol (17 Jahre, Frankfurt am Main): Das erste, was mir in den Kopf gekommen ist, ist das Wort "Stigmatisierung", weil es im Gegensatz zur körperlichen Gesundheit nicht einfach ist, zu sagen, dass es mir mental im Moment vielleicht nicht so gut geht, wie es vielleicht sollte. Wenn man sich ein Bein bricht, kann man das einfach und schnell behandeln lassen und das wird schon wieder. Ansonsten fällt mir noch die Beziehung zu sich selbst ein, nach dem Motto "innerer Frieden", der bei mentalen Krankheiten eben ein bisschen schwerer zu finden ist.

Aike (17 Jahre, Dresden): Für mich geht mentale Gesundheit viel weiter als nur Gesundheit. Denn wenn ich mal in Stigmata denke, dann würde ich bei mentaler Gesundheit vermuten, dass man gesund ist, wenn man glücklich und zufrieden mit seinem Leben ist und eben nicht, wenn man für längere Zeit traurig ist – Stichwort Depression. Aber eigentlich hat mentale Gesundheit für mich weitaus mehr mit Stabilität zu tun. Ich kann auch für eine Woche traurig sein, weil gerade etwas Schlimmes passiert ist, kann jedoch trotzdem sagen, dass ich mental gesund bin. Denn das bin ich, wenn ich die Kraft habe, aus der Trauer wieder rauszufinden, Probleme zu lösen und mich wieder gut zu fühlen.

Ukraine: Valia (15) ist von zu Hause weg gelaufen.

Die 15-jährige Valia in der Ost-Ukraine lief nach familiären Problemen von zu Hause weg. Sie bekam Hilfe durch eine Hotline.

© UNICEF/UN0399561/Filippov

Eben ist das Stichwort Stigmatisierung gefallen. Was würdet ihr sagen, ist es heute noch schwierig, über psychische Gesundheit zu reden und wenn ja, warum?

Marisol: Ja, ich würde schon sagen, dass das heute noch ein Problem ist. Manche denken vielleicht, dass es ja keinen wirklichen Grund gibt, psychisch ungesund zu sein. Und vielleicht kann die Person selbst manchmal nicht ergründen, wieso es ihr so geht. Deshalb ist meiner Meinung nach der größte Grund für die Stigmatisierung, dass es nicht immer greifbare Gründe dafür gibt, warum es einem so geht.

Vielleicht wollen auch viele Eltern mit ihren Kindern nicht so gerne über dieses Thema sprechen, weil sie Angst haben, dafür verurteilt werden zu können, irgendwas in der Erziehung falsch gemacht zu haben.

Anh-Thu: Ich denke, dass ältere Menschen nicht verstehen können, warum es uns mit unseren Gefühlen nicht so gut geht, weil wir heute und hier im Wohlstand leben und jeden Tag etwas zu essen haben und es uns gut geht und wir in Frieden leben. Das war früher bei den älteren Leuten nicht so und deshalb können sie oft nicht verstehen, warum es uns heute schlecht gehen sollte.

Aike: Ich glaube auch, dass die normalisierte Thematisierung mentaler Gesundheit ein neues Phänomen ist. Denn früher, als sich noch viel mehr Menschen täglich darum kümmern mussten, woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen sollen, hatten sie nicht so viel Zeit, um sich zu fragen, wie es ihnen geht und ob sie mental gesund sind. Erst jetzt haben immer mehr Leute (zumindest in wohlhabenden Gesellschaften) die Kapazität, sich damit zu befassen und die Zeit, um darüber zu reden. Deshalb muss alles erstmal in Gang kommen, bis mehr verstehen, dass "mental health" ein Thema ist, das auf der Tagesordnung stehen sollte.

Ich denke, dass es bei dem Thema mentale Gesundheit einen schmalen Grat, aber auch einen Unterschied zwischen Normalisierung und Offenheit gibt.

Marisol, UNICEF JuniorBeirat
Marisol, UNICEF JuniorBeirat

Das ist eine spannende Frage, ist das Problem neu oder ist es neu, dass darüber gesprochen wird? Was meint ihr: Gibt es in eurer Generation eine andere Offenheit gegenüber dem Thema mentale Gesundheit?

Aike: Ich denke schon. Ich würde behaupten, mein Umfeld kann offen damit umgehen. Vor allem jetzt mit Corona hatten nicht wenige Leute Probleme, und es ist nicht problematisch zu sagen, dass man eine Essstörung hat, eine Depression oder zur Therapie geht oder so. Aber es müssen auch gar nicht so dramatische Dinge sein, das beginnt schon bei kleinen Themen.

Manchmal hatte ich aber auch den Eindruck, dass es fast ein Hype ist zu sagen, dass man eine Störung hat. Auf Instagram sehe ich immer öfter, wie versucht wird, beispielsweise bipolare Störungen zu normalisieren. Andere schreien dann auf und sagen: "Same, das habe ich auch!". Und sowas nimmt einfach die Ernsthaftigkeit der Sache weg, was ich sehr kritisch finde.

Online-Gespräch über mentale Gesundheit.

Diskussion über mentale Gesundheit per Video: Jessica Hanschur und Ninja Charbonneau von UNICEF Deutschland im Gespräch mit Anh-Thu, Aike und Marisol vom UNICEF JuniorBeirat (von links oben im Uhrzeigersinn).

© UNICEF Deutschland

Marisol: Ich denke, dass es einen schmalen Grat, aber auch einen Unterschied zwischen Normalisierung und Offenheit gibt. Weil es zwar nicht unnormal ist, wenn man sich ritzt oder so, aber es auch nicht zu glorifizieren ist. Denn wenn jemand erzählt, dass er sich selbst verletzt und der andere dann sagt, das ist nicht so schlimm, habe ich auch schon mal gemacht, dann ist das was anderes als zu sagen, es ist okay, dass du das machst, aber lass es behandeln.

Blog

Psychische Gesundheit: Die wichtigsten Fragen und Antworten

Anh-Thu: Jetzt bekomme ich viel mehr mit, wenn es Menschen um mich herum nicht gut geht, das ist mir früher gar nicht so aufgefallen. Ich weiß nicht, ob das ist, weil es langsam normalisiert wird, darüber zu sprechen, oder ob ich es einfach nicht mitbekommen habe, weil ich so jung war.

Aike hat eben die Rolle von Instagram erwähnt. Wie seht ihr das: Sind die sozialen Medien eher hilfreich im Umgang mit mentaler Gesundheit oder eher das Gegenteil?

Marisol: Ob soziale Medien hilfreich sind oder nicht, hängt stark vom Nutzer ab, finde ich. Denn es gibt viele gute Sachen, aber auch sehr viele schlechte. Deshalb ist immer die Frage, ob eine Person, die mental nicht gesund ist, in der Lage ist, sich die richtigen Inhalte anzusehen und die anderen nicht. Gerade im Bereich Essstörung kann ich mir Instagram und generell soziale Medien als eher schädlich vorstellen, weil es auch viele Foren gibt, die positiv über die Krankheit sprechen und Betroffene darin bestärken. Sowas gehört meiner Meinung nach nicht ins Internet, das müssen wir bannen.

Ecuador: Brithany erhält online psychosoziale Unterstützung.

Brithany (11) in Ecuador hat während der Schulschließung wegen der Corona-Pandemie digital psychosoziale Unterstützung von ihrem Lehrer bekommen.

© UNICEF/UN0490141/Kingman

Anh-Thu: Ich denke, dass Menschen zum Beispiel mit einer Depression auf soziale Medien zurückgreifen, um sich von ihren eigenen Problemen ablenken zu können. Darüber hinaus können soziale Medien jedoch auch Hilfsmittel sein, um den eigenen negativen Gedanken und Emotionen Ausdruck zu verleihen.

Ich habe oft das Gefühl, dass Menschen ihre Probleme und Auffälligkeiten gerne öffentlichkeitswirksam in den Mittelpunkt stellen, nur um sich von der breiten Masse abheben zu können.

Aike: Das ist interessant. Ich habe nicht unbedingt das Gefühl, dass Menschen den Drang verspüren, anders zu sein, sondern eher dass unsere Generation, wahrscheinlich wie die Mehrheit der Menschen, ein starkes Bedürfnis nach Identifizierung verspürt. In der Sprache von Instagram würde man wahrscheinlich von "#relatable" sprechen.

Man möchte sich gerne angesprochen und "getriggert" fühlen, auch bei Themen wie "anxiety". So kommt es dann durchaus vor, dass Leute, die eigentlich nur eine natürliche Anspannung verspüren, plötzlich eine Angststörung an sich diagnostizieren. Mein Gefühl ist, dass hier einiges verschwimmt. Somit überwiegen für mich die negativen Aspekte von Social Media bei diesem Thema. Gut ist, dass in sozialen Medien darüber gesprochen wird, aber schlecht, wie unvorsichtig einige dabei vorgehen.

Es ist normal, ab und zu mental zu kränkeln.

Aike, UNICEF JuniorBeirat
Aike: UNICEF Junior Beirat

Welche Faktoren können Kinder und Jugendliche mental stark machen?

Anh-Thu: Es ist vor allem dein Umfeld und die Menschen um dich herum, die dich mental stärker oder schwächer machen können. Wenn man zum Beispiel viel Aufmerksamkeit und Lob von den Eltern bekommt, dann fühlt man sich auch mental stark. Wenn sie einem aber keine Anerkennung schenken, zieht einen das auch runter. Gerade in jungen Jahren wird man sehr stark von den Menschen im direkten Umfeld beeinflusst. Das ist bei Freunden ähnlich: Wenn sie dich ermutigen, dann wirkt sich das positiv auf deine mentale Gesundheit aus.

Marisol: Das würde ich auch sagen. Meine mentale Gesundheit hängt aber auch sehr von der Jahreszeit und vom Wetter ab. Je öfter ich draußen sein kann, desto besser geht es mir. Und es kommt auch immer auf das Mindset an, das man hat. Das kann man am meisten verändern, aber es beeinflusst einen auch am stärksten.

Aike: Ich denke, dass auch Glück dazugehört, denn manche Menschen haben genetische Veranlagungen, mental zu erkranken. Es spielen so viele Faktoren mit rein, die die Gefühle beeinflussen. Bei mir hat das zum Beispiel auch viel mit Musik zu tun. So oder so ist es normal, sollte man ab und zu mal mental "kränkeln".

Afghanistan: Die sechsjährige Asal mit ihrer Mutter.

Asal (6) mit ihrer Mutter. Die Familie stammt aus Afghanistan und ist nach Bosnien-Herzegowina geflüchtet.

© UNICEF/UN0535330/Djemidzic

Wie habt ihr die Pandemie-Zeit bisher erlebt und wie hat sie sich auf eure mentale Gesundheit ausgewirkt?

Anh-Thu: Am Anfang fand ich es ganz cool, Zeit zu haben, auszuschlafen und einfach mal zu Hause zu sein. Es hat sich bei mir nicht so groß auf die Noten ausgewirkt, weil ich mir schon Mühe gegeben habe, aktiv mitzumachen. Aber Anfang dieses Jahres habe ich langsam gemerkt, dass es schwieriger wurde. Meine mentale Gesundheit war da nicht so gut, weil ich eben von allen abgeschottet war und mich teilweise auch alleine gefühlt habe.

Marisol: Das war bei mir im ersten Lockdown auch so. Das war die Glanzphase meiner mentalen Gesundheit. Ich habe mich eigentlich total gefreut, weil ich so viel machen konnte, zum Beispiel nähen. Ich habe auch viele neue Hobbies entdeckt, war super viel draußen und mir ging es wirklich richtig gut. Aber nach dem dritten Mal geht es einem dann doch nicht mehr so gut, weil man dann alles genäht hat, was man nähen wollte und man wusste gar nicht mehr, wie man die ganze Zeit nutzen sollte, die man hatte. Also es war schon mit Stimmungsschwankungen verbunden.

Ich erinnere mich an ganz viele Situationen, in denen ich mit meiner Mama zusammensaß und geweint habe, weil ich meine ganze Jugend verpasse. Im ersten Lockdown bin ich 16 geworden und wollte dann auch mit einer Freundin tanzen gehen. Inzwischen sind wir beide 17 und waren immer noch nicht tanzen. Eigentlich sollten das so schöne Jahre werden.

Indien: Bagyesh (13) nimmt am Online-Unterricht teil.

Bagyesh (13) in Indien nimmt im Sommer 2020 während des Corona-Lockdowns am Online-Unterricht teil.

© UNICEF/UNI355746/Panjwani

Aike: Meine Pandemie-Zeit war bisher nicht schlimm. Natürlich, wenn in der Pandemie gesagt wurde, "es gibt noch einen Lockdown", habe ich mich auch nicht gefreut. Aber rückblickend nehme ich das nicht mehr als besonders schwer wahr. Das Einzige, das es mir gezeigt hat, ist: Es kann einfach irgendetwas passieren und dann sind die Dinge komplett anders. Man kann vorher noch so viel geackert haben, es gibt einfach Umstände, an denen kannst du persönlich nicht rütteln. Das war am Anfang ein bisschen schwierig – aber ich habe das wie eine Challenge gesehen, die ich bewältigen musste. Ich habe auf jeden Fall viel über mich gelernt.

Wir sollten unser Umfeld öfter mal fragen: Wie geht es dir heute?

Anh-Thu, UNICEF JuniorBeirat
Anh-Thu, UNICEF JuniorBeirat

Ich finde es total super, wie offen ihr über das ganze Thema redet und auch über eure Erfahrungen. Danke dafür. Vielleicht habt ihr Lust, noch ein kurzes Abschlusswort zu sagen. Etwas, was euch besonders wichtig ist zum Thema mentale Gesundheit.

Aike: Mein Papa hat mir immer gesagt: Mach dich selber nicht kaputt, denn sonst erreichst du von deinen Zielen, etwas zu verbessern, nichts. Das hilft mir immer wieder, weil ich der Meinung bin, dass unser Leben per se nicht den einen Sinn hat und man seinem Leben deswegen selber einen Sinn geben kann. Und für mich ist dieser, etwas für die Menschen in meinem direkten Umfeld und auf der ganzen Welt zu verbessern. Das kann ich nur, wenn es mir entsprechend gut geht. Und deshalb muss ich mir auch die Zeit nehmen, mich um mich selbst zu kümmern, wenn es mir mal nicht so gut geht.

Niger: Zwei Freunde beim Armdrücken.

Man fühlt sich besser, wenn man seine Gedanken teilen kann: Freunde in Niger.

© UNICEF/UN0535836/Dejongh

Marisol: Ich würde sagen, dass man sich nicht für irgendetwas schämen muss und an keinem Punkt seines Lebens festlegen muss, wer man ist oder wo man gerade steht und sich Zeit lassen soll bei der Suche nach sich selbst. Man sollte nie aufhören zu suchen und sich auch Hilfe holen, wenn man denkt, dass man bei der Suche Hilfe braucht. Wenn es einem selbst nicht gut geht, wie Aike schon gesagt hat, dann kann man andere auch nicht positiv beeinflussen. Es muss dir zuerst gut gehen, damit du Gutes für die Menschheit tun kannst.

Anh-Thu: Ich kann den anderen nur zustimmen. Ich würde noch hinzufügen, dass wir öfter auch andere in unserem Umfeld mal fragen sollten: Wie geht es dir heute? Ich finde das immer sehr wichtig, weil man sich auch selbst immer besser fühlt, wenn man das mit einer anderen Person teilt und Dinge loswerden kann.

» Videotipp: "One question can change everything" mit Poetry Slammerin TAZ – englischsprachiges Video-Projekt von UNICEF zum Welttag für psychische Gesundheit

Ninja Charbonneau
Autor*in Ninja Charbonneau

Ninja Charbonneau ist Pressesprecherin und schreibt im Blog über Hintergründe zu aktuellen Themen.