Gut zu wissen

"Viele Kinder haben niemanden, der sie ernst nimmt"

Stress mit Eltern oder Freunden oder Mitschülern? Mobbing oder Probleme in der Schule? Angst oder Gewalt in der Familie? Wenn Kinder und Jugendliche Sorgen und Probleme haben, bietet ihnen die "Nummer gegen Kummer" wichtige Hilfe. Somera engagiert sich seit vielen Jahren ehrenamtlich bei dem anonymen Hilfetelefon. Wir haben mit ihr über ihre Arbeit gesprochen.


von Christine Kahmann

So hilft die "Nummer gegen Kummer"

Liebe Somera, wie bist Du dazu gekommen, dich bei der "Nummer gegen Kummer" zu engagieren?

Somera: In meiner Schule wurden damals Flyer verteilt, auf denen die Ausbildung beim Projekt "Jugendliche beraten Jugendliche" beworben wurde. Ich wollte wissen, wer denn eigentlich auf der anderen Seite bei so einem Telefon sitzt und wie die Ausbildung abläuft. Zu dem Zeitpunkt war ich 15 Jahre alt und habe auch in meinem Freundeskreis mitbekommen, dass es oft Probleme gibt, über die man nicht immer so reden mag, da es einem unangenehm ist oder man nicht weiß, wie man etwas ansprechen soll. Bei diesen Punkten ist es einfach schön, wenn man eine Person ansprechen kann, die nicht persönlich involviert ist.

Portrait: Somera engagiert sich beim Hilfetelefon Nummer gegen Kummer.
© Privat

Was motiviert dich, dich für Kinder in Not einzusetzen?

Somera: Ich finde es gut, wenn Jugendliche sich in der Gesellschaft miteinbringen können. Es ist hilfreich, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher anruft und merkt, dass die eigenen Probleme auch der Person am anderen Ende des Hörers bekannt vorkommen und diese Person vielleicht sogar die gleiche Sprache spricht und sie versteht. Es müssen keine Apps oder Abkürzungen erklärt werden. Das Kind oder die Jugendliche kann sich von vornherein verstanden fühlen und muss nicht erst lange etwas erklären, bevor wir zum eigentlichen Anliegen kommen, über das das Kind oder der oder die Jugendliche reden möchte.

Mit welchen Sorgen und Nöten wenden sich die Jungen und Mädchen an dich?

Somera: Da gibt es tatsächlich eine breite Spanne. Es kommt manchmal auch ein wenig auf die Jahreszeit an. Zum Sommer hin, wenn es Zeugnisse gibt, sprechen wir viel über schlechte Noten oder Lehrerinnen und Lehrer, die vielleicht etwas schwierig sind. Dann gibt es Themen, die jeder von uns kennt, wie Liebeskummer oder Streit im Freundeskreis. Aber es gibt auch schwierigere Fälle wie Gewalt, sexuelle Übergriffe und suizidale Gedanken. Die Themen, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen an uns wenden, sind also sehr vielfältig.

Gibt es neue Themen, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie aufkommen?

Somera: Auf jeden Fall! Am Anfang der Pandemie haben zum Beispiel viele Kinder und Jugendliche bei uns angerufen, um sich darüber zu informieren, wie es nun weitergeht oder mehr über das Virus und die Folgen zu erfahren. Es gab anfangs noch viele Fragen zur Pandemie, viele Unsicherheiten – vieles war nicht bekannt – die Situation war neu. Zum Sommer hin haben sich viele Anrufende gefragt, wie es mit dem Schulwechsel aussieht: Muss ich jetzt für immer in der Grundschule bleiben oder wie geht es dann für mich weiter?

Dadurch, dass die Schulen geschlossen sind und auch viele Freizeit- und Sportvereine schließen mussten, haben die Kinder immer weniger Ausweichmöglichkeiten. Viele Eltern bleiben durch das Homeoffice zuhause, so dass die Familie viel mehr Zeit miteinander verbringt. Daher haben wir nun vermehrt Anrufe von Kindern, die von innerfamiliären Streitereien, psychischer und physischer Gewalt und sexuellen Übergriffen berichten.

Es ist schwer für ein Kind, wenn sie oder er tagtäglich immer wieder hören muss, dass es dumm sei oder sowieso nichts zustande bringen wird – besonders wenn es gleichzeitig keinen anderen Zufluchtsort gibt. Die Kinder und Jugendlichen können nicht in die Schule ausweichen, sich dort keine Hilfe holen oder sich an ihren Vertrauenslehrer oder einfach nur ihre beste Freundin und ihren besten Freund wenden. Das alles bleibt gerade auf der Strecke und so kontaktieren sie uns bei der "Nummer gegen Kummer", um mit uns über ihre Sorgen zu sprechen. Da die Schule als wichtige Anlaufstelle wegfällt, probieren wir dann gemeinsam zu schauen, ob es im Umfeld der Kinder und Jugendlichen Menschen gibt, an die sich die Kinder wenden können, wie beispielsweise Nachbarn oder andere Familienmitglieder.

Deutschland: Hanna spielt zu Hause vor einem Wäscheständer Klavier.

Während der Corona-Krise fallen wichtige Personen und Orte wie Schulen und Freizeiteinrichtungen weg, die Kindern sonst Struktur und Halt geben.

© UNICEF/UNI332785/Bänsch

Was brauchen die Kinder in dem Gespräch und wie gehst du vor?

Somera: Das ist je nach Situation unterschiedlich. Erst einmal brauchen die Kinder jemanden, der ein offenes Ohr für sie hat. Dabei ist es wirklich ganz wichtig, die Kinder ernst zu nehmen. Viele haben nie erfahren, von jemandem ernst genommen zu werden. Gerade wenn Kinder aus einer – sagen wir einmal – besseren Gesellschaftsschicht kommen und ansprechen, dass Zuhause vielleicht etwas nicht ganz so gut läuft, wird ihnen oft kein Glaube geschenkt oder ihr Problem wird verharmlost. Sie müssen dann Sätze hören wie: "Stell dich doch nicht so an" oder "Anderen geht es viel schlechter als dir!"

Oft ist es so, dass sie ihre Sorgen nicht ein oder zweimal äußern müssen, sondern viel öfter, bis ihnen Glauben geschenkt wird oder sie ernst genommen werden. Sich trotzdem Hilfe zu holen braucht viel Mut und Überwindung. Und es wird bei jedem Mal schwieriger sich durchzuringen und den Mut aufzubringen, sich einer Person anzuvertrauen. Manchmal braucht ein Kind dadurch auch mehrere Anrufe bei uns, damit wir sie oder ihn motivieren und bestärken können. Das Kind muss sich erst einmal ernst genommen und wertgeschätzt fühlen, bevor sie oder er sich überhaupt traut, sich jemand anderem zu öffnen und dieser Person von seinen oder ihren Problemen, Sorgen oder auch Ängsten und von dem, was da Zuhause gerade passiert, zu erzählen.

Dementsprechend hören wir immer erst einmal zu und versuchen, die Kinder zu stärken. Dann schauen wir gemeinsam, wie die nächsten Schritte aussehen könnten und an wen man sich noch wenden könnte. Natürlich verweisen wir auch auf andere Institutionen, wenn es gar nicht mehr geht, aber zuerst geht es darum, für das Kind da zu sein und es ernst zu nehmen.

Hast Du eine Botschaft für die Kinder und Jugendlichen?

Somera: Meine Botschaft an euch: In einer besonders schwierigen Zeit ist es wichtig füreinander da zu sein und aufeinander zu achten. Auch wenn man das Lächeln unter der Maske nicht immer sehen kann, kann es trotzdem jemandem den Tag retten. Ein Lächeln kostet uns alle nichts und schenkt jedem in dieser Zeit Hoffnung.

InfoBeratungsstellen und Hotlines

Für Kinder, Jugendliche und Eltern

An wen kann man sich wenden, wenn man sich in der aktuellen Corona-Krise überfordert fühlt oder einen Rat braucht? Dazu stehen erfahrene, kostenlose Anlaufstellen und Beratungsangebote zur Verfügung. Hier finden Sie eine Übersicht:

Wenn Sie als Eltern Unterstützung brauchen, finden Sie Hilfsangebote unter folgendem Link: Übersicht über aktuelle Informationen zu Hilfs- und Unterstützungsangebote des Bundesministeriums für Familie

Die "Nummer gegen Kummer" bietet Telefonberatung für Kinder, Jugendliche und Eltern.

Das Elterntelefon richtet sich an Mütter und Väter, die sich unkompliziert und anonym konkrete Ratschläge holen möchten.

Die Initiative #keinKindalleinlassen gibt eine Übersicht über Tipps und Strategien, die helfen könnten, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen.

Mitarbeiterfoto: Christine Kahmann, UNICEF Deutschland
Autor*in Christine Kahmann

Christine Kahmann berichtet aus der Pressestelle über aktuelle UNICEF-Themen.