Entführte Mädchen in Nigeria: Tatort Schule
Stellen Sie sich vor, Ihre Tochter (Schwester, Nichte, Nachbarin) steht kurz vor dem Abitur. Sie sind wahnsinnig stolz. Doch dann wird Ihre Tochter vor ihrer letzten Prüfung von Terroristen entführt – und mit ihr die gesamte Abschluss-Stufe. Unvorstellbar, oder?
Wie kann es also sein, dass im Nordosten von Nigeria 200 bis 300 Mädchen aus einer Schule entführt werden und dass auch drei Wochen später noch jede Spur von ihnen fehlt? Immerhin: Der internationale Druck wächst. Auch deutsche Medien berichten heute auf den Titelseiten von den entführten Mädchen in Nigeria.

Weltweit gibt es Proteste für die Freilassung der Schülerinnen.
© Screenshot sueddeutsche.de, 7. MaiTerroristen kündigen Zwangsheirat an
Deshalb wird es Sie vielleicht überraschen: So schrecklich diese Entführung auch ist – sie ist für die Menschen in Nigeria leider nichts völlig Neues. Es ist der aktuellste Fall in einer langen Serie von schweren Verbrechen gegen Kinder und der Fall, der bisher für die meiste weltweite Aufmerksamkeit sorgt. Dennoch bin ich entsetzt über das Schicksal von jedem einzelnen dieser Mädchen und über die Dreistigkeit der Terroristen von Boko Haram, die öffentlich den Verkauf und die Zwangsheirat der Mädchen ankündigen.
Schon seit Jahren sind in Nigeria immer wieder Schulen das Ziel von Angriffen. Also gerade die Orte, die ein besonderer Schutzraum für Kinder sein sollten. Doch es kommt noch schlimmer. In den letzten zwei, drei Jahren scheint sich die Taktik der Terroristen geändert zu haben: Sie beschränken sich nicht mehr darauf, in der Nacht leerstehende Schulgebäude zu zerbomben. Stattdessen beobachten UNICEF-Mitarbeiter in Nigeria mit großer Sorge, dass militante Gruppen vermehrt auf Menschen zielen. Schüler und Lehrer werden angegriffen, eingeschüchtert, entführt und getötet.

Selbst in der Schule nicht sicher: Schülerinnen wie dieses Mädchen aus Bungudu im Norden Nigerias.
© UNICEF/NYHQ2008-1063/Nesbitt
Allein im ersten Halbjahr 2013 wurden mehr als 50 Schulen in Nigeria angegriffen, die meisten in der Provinz Borno, wo auch die aktuelle Entführung stattfand, und in der benachbarten Provinz Yobe. Bei einer Anschlagserie im Sommer 2013 wurden 48 Schüler und sieben Lehrer ermordet. Im Februar 2014 wurden weitere 45 Schüler in Yobe ermordet.
Viele Schulen in Nigeria bleiben geschlossen
Und die grausame Strategie scheint aufzugehen: Obwohl ihnen die Bildung ihrer Kinder am Herzen liegt, schicken viele Eltern ihre Mädchen und Jungen in manchen Regionen aus Angst nicht mehr zur Schule. Nigeria ist weltweit das Land, in dem die meisten Kinder im Schulalter von Bildung ausgeschlossen sind: 10,5 Millionen oder jedes dritte Kind im Grundschulalter. 60 Prozent sind Mädchen. Natürlich spielen dabei auch andere Faktoren eine Rolle, aber im Nordosten des Landes, wo die meisten Anschläge verübt werden, gehen die wenigsten Kinder zum Unterricht. Lehrer trauen sich nicht mehr zur Arbeit, viele Schulen bleiben seit Monaten geschlossen. Bildung – ein Grundrecht überall auf der Welt – ist für Kinder in Nigeria lebensgefährlich.
#BringBackOurGirls

Aber es gibt auch Hoffnung: Vielleicht sind die Terroristen diesmal einen Schritt zu weit gegangen. Die Eltern der entführten Mädchen und andere mutige Bürger demonstrieren seit Wochen für die Freilassung der Schülerinnen. Menschen auf der ganzen Welt zeigen ihre Unterstützung und sorgen so für öffentlichen Druck. Wir wollen gemeinsam mit den Menschen in Nigeria dafür sorgen, dass die entführten Mädchen nicht vergessen werden. Wir werden keine Ruhe geben, bis sie frei und in Sicherheit sind.

Ninja Charbonneau ist Pressesprecherin und schreibt im Blog über Hintergründe zu aktuellen Themen.