Menschen für UNICEF

Kinderrechte in Kommunen: „Signale für einen Aufbruch“

Kindheit findet dort statt, wo Kinder zu Hause sind – in ihrer Nachbarschaft, in ihrer Schule, in ihrem Stadtviertel. Die Verwirklichung der Kinderrechte ist daher eine wichtige kommunale Aufgabe, denn Stadt- und Gemeindepolitik prägen in hohem Maße das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen.


von Kerstin Rosenow-Williams

Zum Weltkindertag 2020 hat UNICEF gemeinsam mit der IW Consult die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage unter deutschen Städten und Gemeinden veröffentlicht.

Welchen Stellenwert hat die Verwirklichung von Kinderrechten in deutschen Städten und Gemeinden heute? Werden Kinder und Jugendliche ausreichend an für sie wichtigen Entscheidungen beteiligt? Welche konkreten Maßnahmen zur Umsetzung der Kinderrechte gibt es bereits? Und was bleibt noch zu tun?

Wir haben unserem Leiter der Advocacy- und Programmabteilung Dr. Sebastian Sedlmayr genau diese Fragen gestellt.

Kinderrechte ins Grundgesetz: Dr. Sebastian Sedlmayr, UNICEF Deutschland

Dr. Sebastian Sedlmayr leitet die Advocacy und Programmabteilung bei UNICEF Deutschland.

© UNICEF/DT2016-45013/Chiolo

Herr Dr. Sedlmayr, warum sind Kinderrechte ein wichtiges Thema für Kommunen?

Sedlmayr: Die Rechte und das Wohl von Kindern und Jugendlichen sind für Kommunen auf mittlere Sicht überlebensentscheidend. Denn wie es den Kindern und Familien vor Ort ergeht, wirkt sich unmittelbar auf das Gesamtgefüge aus, auch auf Abwanderung oder Zuwanderung, auf Steuereinnahmen, auf den sozialen Zusammenhalt. Mehr und mehr Kommunen haben das verstanden und suchen nun nach Möglichkeiten, mehr zu tun, auch mehr zu investieren.

Das Motto des diesjährigen Weltkindertags heißt „Kinderrechte schaffen Zukunft“. Was heißt das konkret?

Sedlmayr: Um das zu illustrieren, sei ein vielleicht etwas extremes Beispiel gestattet. Stellen wir uns vor, eine Gemeinde wird ihrem Auftrag, die Rechte von Kindern auf Schutz, auf Förderung und auf Beteiligung zu verwirklichen so gar nicht gerecht, es gibt keine Infrastruktur für Familien, keine Spielplätze, keine Kitas, die Schule ist marode, zum nächsten Kinderarzt dauert es eine halbe Stunde Autofahrt. Welche Zukunftsaussichten hätte diese Gemeinde wohl? Umgekehrt gesprochen: Wenn Städte und Gemeinden in ihren Nachwuchs investieren, wenn Kinder, Jugendliche und Familien sich dort, wo sie leben wohlfühlen, stärkt das ganz erheblich die Identifikation, den Zusammenhalt und letztlich auch die Leistungsfähigkeit der Kommune. Unsere Umfrage „Kinderrechte in Kommunen“ zeigt, dass das – in etwas anderen Begriffen – praktisch alle befragten Kommunen auch so sehen.

Was sind die zentralen Ergebnisse der aktuellen UNICEF-Umfrage zur Umsetzung der Kinderrechte in Städten und Gemeinden in Deutschland?

Sedlmayr: Die Ergebnisse zeigen, dass ein Großteil der befragten Kommunen die Umsetzung der Rechte von Kindern und Jugendlichen als Aufgabe ernst nimmt und bereits Schritte unternommen hat, um die Kinderrechte lokal abzusichern. Neue Einrichtungen wie etwa Kinderbeauftragte, aber auch umfassende Konzepte für eine kinder- und familiengerechtere Kommune sind keine Seltenheit mehr wie noch vor einigen Jahren. Dennoch bleibt noch viel zu tun, denn was getan wird und welche Qualität die Maßnahmen haben, hängt nach wie vor nahezu vollständig vom freiwilligen, oft ehrenamtlichen Engagement in den jeweiligen Kommunen ab.

Kinder und Jugendliche haben das Recht, bei den Themen, die sie betreffen, gehört und beteiligt zu werden. Geschieht das schon ausreichend auf kommunaler Ebene?

Sedlmayr: Ich war zugegeben erstaunt, dass 93 Prozent der befragten Kommunen die Partizipation von Kindern und Jugendlichen als wichtig oder sehr wichtig eingestuft haben. Das zeigt eine große Sensibilisierung für das Thema bzw. für die Belange von Kindern und Jugendlichen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich zwar, dass qualitätsvolle Beteiligung mit kindgerechter Begleitung konkreter Prozesse weiterhin eher selten ist. Aber immerhin hat die Mehrzahl der befragten Kommunen inzwischen Erfahrungen gesammelt mit Befragungen von Kindern und Jugendlichen oder der punktuellen Einbeziehung in Planungsprozessen. Auf diesen Erfahrungen lässt sich aufbauen.

Regensburg: Mitglieder des Jugendbeirats haben bei einer Versammlung Spaß.

2015 setzte Regensburg einen Jugendbeirat ein. Der Jugendbeirat dient der Interessensvertretung aller Kinder und Jugendlichen in Regensburg.

© Stadt Regensburg

Haben Sie die Ergebnisse der Umfrage überrascht?

Sedlmayr: Neben den Werten zur Wichtigkeit von Partizipation hat mich doch überrascht, wie klar die befragten Kommunen die Investitionen in Kinderfreundlichkeit unmittelbar mit einer Verbesserung der Gesamtsituation sehen, und zwar auch in auf den ersten Blick fern erscheinenden Feldern wie der Kriminalitätsbekämpfung. Natürlich stützen die Ergebnisse unsere Grundthese, dass Kinderrechte die kommunale Entwicklung fördern. Aber ich hätte nicht gedacht, dass in Deutschland dieses Bewusstsein schon so weit verbreitet und verankert ist.

Was kann jede Bürgermeisterin und jeder Bürgermeister konkret tun, um Kinderrechte vor Ort umzusetzen?

Sedlmayr: Die Initiative Kinderfreundliche Kommunen, die UNICEF Deutschland mit dem Deutschen Kinderhilfswerk aufgebaut hat und auch künftig weiterträgt, hat in den vergangenen Jahren sowohl eine breite Basis an Fachwissen über kommunale Kinderrechte zusammengetragen als auch einen prozessualen Rahmen erarbeitet, dem sich prinzipiell jede Kommune in Deutschland anschließen kann. Aber auch ohne ein „Siegel“ für Kinderfreundlichkeit können die vielfältigen Materialien aus der Initiative dazu dienen, sich lokal um Kinder- und Jugendrechte nach Qualitätsstandards zu kümmern. Wenn Politik, Gesellschaft und auch die lokale Wirtschaft an einem Strang ziehen, kann das einen echten Aufbruch für Kommunen bedeuten. Die Signale dafür stehen günstig.

Wie kann die Landes- und Bundespolitik Städte und Gemeinden unterstützen, kinderfreundlicher zu werden?

Sedlmayr: Die Kommunen in Deutschland sind für vieles zuständig, das sich direkt auf Kinder, Jugendliche und Familien auswirkt. Das zeigt sich in der momentanen Lage der Covid-19-Pandemie mit einer gewissen Schärfe, die für alle Beteiligten nicht immer angenehm ist. Wie ist es um ausreichend bezahlbaren Wohnraum bestellt, wie um den Schlüssel von Kita-Personal, wie um niedrigschwellige Präventionsangebote gegen häusliche Gewalt? Die lokale Ausstattung in all diesen Bereichen divergiert innerhalb des Landes, innerhalb von Bundesländern und selbst innerhalb von Kommunen. Zu viel hängt vom Engagement Einzelner ab. Deshalb braucht es einen verbindlichen Rahmen, den wir vornehmlich in der Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz sehen, und es braucht eine verlässliche Finanzierung, um für Kinder gleichwertige Lebensverhältnisse und Chancengleichheit herzustellen.

Wie sieht Ihr Fazit aus? Was wünscht UNICEF sich für die Zukunft von Kindern in deutschen Städten und Gemeinden?

Sedlmayr: Platz im Freien und in den Wohnungen, gute Luft, Kitas, Schulen und Freizeiteinrichtungen, die jedes einzelne Kind und jeden einzelnen Jugendlichen willkommen heißen und wertschätzen, und vor allem mehr qualitätsvolle Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der Entwicklung ihrer Kommune. Das stärkt die lokale Identität, den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit der Kommunen sowie des ganzen Landes.

München: Ein integrativer Spielplatz in einer Wohngegend am Ackermannbogen.

Familienfreundliches Wohnen am Ackermannbogen in München mit Rodelhügel, vielen Grünflächen und einem integrativen Spielplatz, der auch behinderten Kindern Spielmöglichkeiten bietet.

© zaharias landschaftsarchitekten
Portrait: Dr. Kerstin Rosenow-Williams
Autor*in Kerstin Rosenow-Williams

Dr. Kerstin Rosenow-Williams ist Kinderrechtsspezialistin mit dem Schwerpunkt Forschung und Monitoring bei UNICEF Deutschland.