„Die Last von unseren Schultern nehmen“
Aufwachsen in Krisenzeiten: Was das für junge Menschen im Alltag heißt, berichteten Donat Miftari (15) und Raina Ivanova (18) beim UNICEF-Neujahrsgespräch in Schloss Bellevue. Auf Einladung von Schirmherrin Elke Büdenbender diskutierten sie mit erwachsenen Fachleuten was notwendig ist, um Kinder und Jugendliche zu stärken.
„Nach der langen Pandemiezeit macht es mich wirklich wütend, wenn an meiner Schule jetzt ernsthaft überlegt wird die Klassenfahrt zu streichen, um Lernstoff nachzuholen.“ Für Donat Miftari aus Lörrach, 15 Jahre alt, zeigt das Beispiel, wie sehr die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen im Schulalltag unter den Tisch fallen. Der extreme Leistungsdruck führe dazu, dass bei manchen Klassenarbeiten die Hälfte der Schüler*innen aus Angst fehle. Die Lehrkräfte schafften es mit 30 bis 40 Kindern pro Klasse nicht, sich um Einzelne zu kümmern.
So blieben mentale Probleme oder Überforderung oft unentdeckt - und viele Mädchen und Jungen mit den Pandemiefolgen völlig alleingelassen. „Wir haben nach Corona selbst Nachhilfe organisiert, obwohl das nicht unsere Aufgabe wäre“, so Donat, der sich im UNICEF-JuniorBeirat und als Schülersprecher engagiert. „Und bei der Frage nach Anlaufstellen für mentale Probleme wurden wir von einer Stelle zur nächsten verwiesen – bis zu Seelsorge-Hotlines, die dann völlig überlastet sind.“
Kinder und Jugendliche nicht mit Krisen alleinlassen
Raina Ivanova, 18 Jahre alt und aus Hamburg, macht besonders die Klimakrise Sorgen: „Ich finde es mental extremst belastend täglich zusehen zu müssen, wie die Lebensgrundlagen von Kindern von der Politik aktiv gefährdet werden.“ Raina war 2019 gemeinsam mit Greta Thunberg und anderen Jugendlichen an der ersten Klimabeschwerde vor dem UN-Kinderrechtsausschuss in New York beteiligt. Zudem war sie im UNICEF-JuniorBeirat und in der Schüler*innenkammer Hamburg aktiv, um sich für ihre Altersgenoss*innen einzusetzen.
„Mehr als die Hälfte aller Kinder weltweit lebt schon heute in Ländern, die extrem stark vom Klimawandel betroffen sind“, so Raina. „Das sind für mich nicht nur Statistiken, sondern reale Schicksale von Jugendlichen in meinem Alter und sogar jüngerer Kinder.“ Sie erlebe auch, dass ihre jüngeren Geschwister weinen, weil die Klimakrise sie so belaste. Kinder seien gegenüber Krisen weniger resilient und hätten häufig nicht die Erfahrung und Kompetenz, sie zu verarbeiten.
Kinderrecht auf Beteiligung frühzeitig umsetzen
Wie also lässt sich nachhaltig etwas verbessern – bei der Haltung der Erwachsenen gegenüber jungen Menschen sowie ganz praktisch bei den Hilfsangeboten? Aus Sicht von Donat und Raina zählt besonders die frühzeitige Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – sie ist ein zentrales Kinderrecht. Denn durch Beteiligung erleben Mädchen und Jungen, dass ihre Perspektive zählt und sie etwas verändern können. „Es nimmt bereits eine Last von den Schultern, wenn Erwachsene mit uns den Dialog auf Augenhöhe suchen.“
Doch leider erleben Donat und Raina bei ihrer Gremienarbeit, dass sie nicht wirklich ernstgenommen werden: „Erwachsene fragen uns dann nur, wie wir ihre Ideen finden oder schicken uns ohne Hilfe in komplizierte Antragsverfahren. Wir wollen aber nicht schon fertige Papiere freigeben, sondern dabei sein, wenn sie geschrieben werden.“
Psychische Gesundheit mehr zum Thema machen
Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen braucht deutlich mehr Aufmerksamkeit, in der Schule und in der gesamten Gesellschaft - diese Einschätzung teilten auch die erwachsenen Fachleute auf dem Podium. Stephan Grünewald vom rheingold institut erläuterte auf Basis der rheingold Jugendstudie 2022, wie Corona Jugendliche dazu gezwungen habe, ihre eigenen Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben zurückzustellen. Manche hätten geradezu verlernt, aktiv auf andere zugehen und sich auszuprobieren - im sozialen Miteinander gebe es viel Nachholbedarf.
Melanie Eckert vom 2020 gestarteten Online-Beratungsangebot krisenchat.de machte deutlich, dass es für junge Leute mit psychischen Problemen bei weitem nicht genug alltagsnahe Unterstützungsangebote gebe. Die Beteiligung von Jugendlichen selbst sei auch bei der Entwicklung des krisenchat.de-Angebots sehr wichtig gewesen, damit es ihre Interessen und ihre Lebenswelt treffe.
Das System Schule ganz neu zu denken, forderte Beatrix Albrecht vom Niedersächsischen Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung. Ein guter erster Schritt dazu sei das Kinderrechteschulen Programm von UNICEF, das das Land Niedersachsen seit 2022 umsetzt. In dem Trainingsprogramm werden die Kinderrechte zum Herzstück der Schulgemeinschaft. Dadurch werden die Meinungen der Kinder und Jugendlichen ernst genommen sowie das respektvolle Miteinander und die Übernahme von Verantwortung gefördert. Das Programm wird von UNICEF bereits seit vielen Jahren erfolgreich in vielen Ländern umgesetzt.
Zuhören – und gemeinsame Lösungen finden
Was verlangen junge Menschen nun angesichts der vielen Krisen konkret von erwachsenen Entscheidungsträger*innen? „Wir möchten, dass die Erwachsenen mehr auf uns zukommen – nicht immer nur wir auf sie“, so Donat und Raina in ihrem gemeinsamen Appell auf dem Podium. Jugendlichen werde oft vorgeworfen, naiv zu sein und zu groß zu denken. Aber genau darauf käme es in Krisenzeiten an: „Wir müssen jetzt handeln und mutig sein, die scheinbaren Grenzen des Möglichen verschieben und gemeinsam das ‚Unmögliche‘ möglich machen!“
UNICEF sehen die beiden dabei als Verbündeten, um zwischen jungen Menschen und Erwachsenen zu vermitteln und die Dringlichkeit des Handelns deutlich zu machen. „Kinder leben jetzt und sind durch die Krisen akut gefährdet“, so Raina und Donat. „Sie sind die Gegenwart, nicht allein ‚unsere Zukunft‘. Deshalb müssen wir jetzt handeln – und offene Gespräche führen, so wie das heute beim Neujahrsgespräch möglich war!“
UNICEF setzt sich weltweit dafür ein, die mentale Gesundheit und das psychosoziale Wohlergehen von Kindern und auch Eltern zu fördern. So unterstützt UNICEF beispielsweise Beratungsangebote für Kinder sowie Programme für Eltern und Betreuer*innen.
Allein 2020 hat UNICEF weltweit rund 47 Millionen Kinder und Jugendliche mit Angeboten zu psychischer Gesundheit und psychosozialer Unterstützung erreicht. Die UNICEF-Arbeit zu diesem Thema erreichte mit 116 rund doppelt so Länder viele wie noch 2019.
In Deutschland fördert UNICEF mit dem Programm „Kinderrechteschulen“ Ansätze an Schulen, die die gesamte Schulgemeinschaft für die Perspektive und die Rechte von Kindern sensibilisieren und das Schulklima verbessern helfen.