Vom Straßenkind zum Filmemacher?
Begegnungen in Kenia – ein Reisebericht
Über Straßenkinder und was UNICEF für sie tut, wusste ich auch vor meiner Projektreise nach Kenia schon so einiges. Wie es sich aber anfühlt, in einem UNICEF-Projektland betroffenen Kindern zu begegnen, habe ich hautnah erst im März während dieser Reise erfahren. Die Begegnungen mit den Menschen dort – vor allem mit den Kindern und Jugendlichen – haben mich sehr berührt. Eins dieser Kinder ist Patrick, dessen Traum es ist, eines Tages Filmemacher zu werden ...

Patrick ist ein ehemaliges Straßenkind. Er träumt davon, Filme zu produzieren.
© Dagoretti Film SchoolAnlaufstelle für Straßenkinder
An einem heißen Nachmittag Ende März besuchen wir das von UNICEF unterstützte "Dagoretti Child Protection and Development Centre" an der Peripherie der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Im Zentrum werden tagsüber rund 50 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sieben und 17 Jahren betreut, die Straßenkinder waren oder zumindest in der Gefahr standen, auf der Straße zu landen. Geschulte Freiwillige und Streetworker vermitteln sie an die Einrichtung.

Im Dagoretti Centre in Nairobi erhalten die Kinder Essen, Kleidung und eine Ausbildung.
© UNICEF/UNI149356/SchermbruckerViele der Kinder stammen aus so genannten "informal settlements". Die Lebensumstände in diesen slumähnlichen Siedlungen in der kenianischen Hauptstadt Nairobi sind für uns kaum vorstellbar: Dicht an dicht leben die Menschen in provisorisch zusammengebauten Hütten. Manchmal teilen sich ganze Familien einen winzigen Raum in einem der baufälligen Mietshäuser. Es gibt keine Kanalisation, keine befestigten Wege, keine Müllabfuhr. Stromleitungen baumeln an Dachfirsten und provisorischen Masten entlang der Straße. Man mag gar nicht daran denken, wie es hier während der Regenzeit aussieht …

Viele Kinder in Kenia wachsen in größter Armut in so genannten "informal settlements" auf.
© UNICEF/2019/FotiadisDas Dagoretti-Kinder-Zentrum bietet seinen Schützlingen täglich zwischen halb acht und 17 Uhr eine Anlaufstelle, geregelte Mahlzeiten, Förderung und psychosoziale Betreuung. Alle Kinder und Jugendlichen gehen zur Schule oder durchlaufen eine Berufsausbildung bzw. ein "skills training". Da viele der Kinder und Jugendlichen inmitten ihres schwierigen Alltags Zuflucht zu Drogen genommen haben, ist die Hilfe beim Entzug integraler Bestandteil der Betreuungsangebote.
Neben der Unterstützung bei den Hausaufgaben strukturieren kreative Angebote und sportliche Aktivitäten den Tag. Die Kinder und Jugendlichen erhalten medizinische Betreuung und bei Bedarf individuelle psychotherapeutische Begleitung. Auch die Familien der Kinder und Jugendlichen werden nach Möglichkeit eingebunden und gezielt gestärkt.
Patricks Film-Leidenschaft
Beim Rundgang durch das Zentrum lernen wir den 17-jährigen Patrick kennen: Er begleitet uns ebenso professionell wie freundlich mit dem Fotoapparat. Im Computer-Raum des Zentrums erfahren wir, dass er nicht nur ein begabter und passionierter Fotograf ist, sondern auch schauspielert und filmt.
Bereits 2013 hat er in einem eindrucksvollen Kurzfilm mitgespielt, der im Dagoretti Centre produziert wurde: Der Film namens "Child4Hire" erzählt von einem Mädchen in Kenia, das im Spannungsfeld zwischen den Forderungen ihrer strengen Lehrerin und ihren vom Bruder erzwungenen Aufgaben als Drogenkurierin durch alle Maschen fällt und jeden Halt verliert – bis sie schließlich auf der Straße landet. Patrick spielt eines der Straßenkinder in dem 18-minütigen berührenden Film.

Bild 1 von 2 | Patrick in seiner Rolle als Straßenkind im Film "Child4Hire".
© Dagoretti Film School
Bild 2 von 2 | Für seine Filmrolle schlüpfte Patrick noch einmal in die abgetragene Kleidung eines Straßenkindes.
© Dagoretti Film SchoolDas professionell gefilmte und geschnittene Video wurde bereits auf mehreren internationalen Filmfestivals gezeigt. Seither ist Patricks Leidenschaft für Schauspiel, Film und Fotografie ungebrochen. Im Spielfilm "The Cut" – ebenfalls im "Dagoretti Centre" produziert – spielte er eine Hauptrolle. Auf 15 Filmfestivals in Amerika, Europa und Afrika wurde der Film gezeigt und mit zwei Preisen geehrt.
Von Patricks Film-Begeisterung profitieren auch seine Altersgenossen im "Dagoretti Centre": Dort leitet er nämlich Film- und Fotografie-Kurse für jüngere Mädchen und Jungen – und nimmt seine Rolle auch dabei sehr ernst.

Heute gibt Patrick Film- und Foto-Kurse im Dagoretti Centre. Das Leben als Straßenkind hat er weit hinter sich gelassen.
© Dagoretti Film SchoolPatricks Kindheit: Abwärtsspirale auf die Straße
Ein wenig erfahren wir über Patricks Leben: Als ältestes von fünf Kindern kam er in ländlicher Umgebung in Zentral-Kenia zur Welt. Als er sieben Jahre alt war, fing das kleine Haus der Familie Feuer, und seine jüngere Schwester trug schwere Verbrennungen davon. Später übersiedelte die Familie nach Kibera, einem "informal settlement" in Nairobi. Kurz nach den Wahlen 2007/2008 kam es in dem Armenviertel zu gewaltsamen Übergriffen. Patricks Vater verschwand spurlos. Patrick weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt. 2012 zog die alleinerziehende Mutter mit ihren Kindern in den Kawangware Slum von Dagoretti. Im Alter von zwölf Jahren brach Patrick die Schule ab, um seiner Mutter, dabei zu helfen, die Familie zu ernähren. Unter anderem verkaufte er Holzkohle auf dem Kawangware-Markt.

Patrick hat schwierige Zeiten hinter sich. Aber im Dagoretti Centre fand er Unterstützung und Hilfe. Er holte seine Schulausbildung nach und machte eine Lehre.
© Dagoretti Film SchoolImmer tiefer rutschte Patrick in dieser Zeit in das Leben eines Straßenkindes hinein, bis er 2013 von einem Sozialarbeiter an das Zentrum vermittelt wurde. Die Angebote zur Talentförderung im Bereich Theater, Film und Fotografie nahm er von Beginn an begeistert wahr. 2015 schloss er die achtjährige "primary school" ab und absolvierte im Anschluss eine Ausbildung als Klempner. Sein großer Traum aber ist ein Stipendium für eine Ausbildung im Bereich der Filmproduktion.
Hoffnung für Kenia
Von unserem Kenia-Besuch bleiben uns viele eindrucksvolle, engagierte junge Leute mit ihren Geschichten, Ideen und Zielen im Gedächtnis. Das Besondere: Alle, mit denen wir gesprochen haben, möchten etwas für ihr Land, ihre Mitmenschen, das gesellschaftliche Miteinander und die Welt von morgen bewegen. Sie sehen die gesellschaftlichen und politischen Probleme in ihrem Land, sind aber auch voller Hoffnung und Zuversicht, etwas zum Positiven verändern zu können. Und viele unserer Gesprächspartner haben diese Haltung aus einer schwierigen Vorgeschichte heraus entwickelt – so wie Patrick. Diese "Generation Zukunft" macht wirklich Mut!

Unsere Kinderschutz-Programme bieten den Kindern neue Perspektiven.
© UNICEF/UNI149437/SchermbruckerHier können Sie mehr über unsere Hilfs-Projekte für Straßenkinder erfahren. Und natürlich freuen wir uns auch über jede Spende, damit wir noch mehr Kindern wie Patrick helfen können, ein neues Leben zu starten.

Anja Petz ist Mitarbeiterin von UNICEF Deutschland und arbeitet in der Abteilung Philanthropie.