Meinung

Kinderrechte gehören ins Grundgesetz, frischer Wind für die Demokratie


von Georg Waldersee

Dieser Beitrag wurde erstmals im Online-Debattenmagazin des Tagesspiegels - Tagesspiegel Causa - veröffentlicht. Zum Original-Artikel

In diesen Tagen wird das deutsche Grundgesetz 70 Jahre alt. Dieser Anlass bietet wirklich Grund zum Feiern, aber auch zur Reflexion. Unsere Verfassung wird um ihre Klarheit und Schlankheit bewundert. Ergänzungen oder Präzisierungen des Grundgesetzes werden zu recht sehr sorgfältig geprüft und diskutiert, denn sie berühren die Grundwerte und Regeln unseres Zusammenlebens in der Gegenwart und Zukunft.

Umso wichtiger ist eine Weichenstellung, die sich nunmehr mit Blick auf das Verständnis und die Position von Kindern in unserer so stark von den Interessen älterer Menschen bestimmten Gesellschaft, abzeichnet. 30 Jahre nach Verabschiedung der UN-Konvention über die Rechte des Kindes gibt es heute eine parteiübergreifende Mehrheit dafür, die Kinderrechte explizit in unsere Verfassung aufzunehmen.

In ihrem Koalitionsvertrag hat sich die amtierende Bundesregierung dazu bekannt, bis Ende des Jahres einen Vorschlag für einen Gesetzentwurf für Kinderrechte im Grundgesetz vorzulegen. Vertreter von Bund und Ländern erarbeiten derzeit einen Textvorschlag für ein Kindergrundrecht.

Dies ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Denn der Entwicklung, der Beteiligung und dem Schutz von Kindern und Jugendlichen muss als Querschnittaufgabe in allen Bereichen unserer Gesellschaft mehr Aufmerksamkeit und Nachdruck verschafft werden.

Ausgangspunkt der Diskussion als auch die Grundlage für das Verständnis der Rechte des Kindes ist die UN-Kinderrechtskonvention. Dieses weltweit einmalige völkerrechtliche Abkommen verpflichtet die Regierungen, das Wohl der Kinder zum Maßstab des politischen Handelns zu machen.

Brief mit Wunsch an den Bundestag: Kinderrechte ins Grundgesetz

Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, wünscht sich auch dieser Junge einer Berliner Grundschule.

© UNICEF DT/2016/Julia Zimmermann

Im deutschen Grundgesetz kommen Kinder als Inhaber von eigenen Rechten bisher nicht ausdrücklich vor. Dies hat ganz praktische Konsequenzen: Zwar ist die Kinderrechtskonvention völkerrechtlich verbindlich und damit gleichrangig wie ein Bundesgesetz. Entgegen dem Charakter der Konvention finden die Kinderrechte in den meisten Rechtsbereichen aber bisher kaum Anwendung. So wägt der Gesetzgeber beispielsweise bei neuen Gesetzen ihre Auswirkungen auf Kinder häufig nicht angemessen ab, die Vereinbarkeit mit den UN-Kinderrechten wird nicht ausreichend geprüft und das Wohl der Kinder steht oftmals nicht im Vordergrund. Gesetze und Maßnahmen, die Kinder unmittelbar betreffen, wie etwas die Festlegung der Regelsätze von Sozialleistungen, werden nicht in Beziehung zu den Kinderrechten gesetzt.

Die Artikel des Grundgesetzes hingegen stehen über allen anderen deutschen Rechtsnormen. Wären die Kinderrechte in der Verfassung festgeschrieben, wäre der Gesetzgeber bei neuen Gesetzen gezwungen, deren Auswirkungen auf die Rechte der Kinder zu prüfen. Die Rechte der jungen Generation auf Entwicklung, Schutz und Beteiligung müssten stärker berücksichtigt werden. Zudem würde die Kinderrechtskonvention endlich mit in die Ausbildung von Juristen – also späteren Anwälten, Staatsanwälten, Richtern und Verwaltungsmitarbeitern – aufgenommen und würde somit einen höheren Stellenwert bekommen.
Die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz würde im Übrigen an frühere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anknüpfen. So stellte das höchste deutsche Gericht bereits 1968 klar, dass Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit sind. Vierzig Jahre später urteilte das Gericht in einer weiteren Grundsatzentscheidung, dass ein Kind sowohl Rechtssubjekt als auch Grundrechtsträger ist. Ein Kindergrundrecht, verabschiedet vom Gesetzgeber, nicht nur interpretiert von der Judikative, ist somit längst überfällig.

Für ein Kindergrundrecht spricht noch viel mehr. So würde der Kinder- und Jugendschutz gestärkt. Jugendämter und andere Einrichtungen könnten viel stärker als bisher auf eine ausreichende personelle und fachliche Ausstattung pochen. Und Kinder würden früher und systematischer gehört. Denn trotz wichtiger Reformen kommt es immer wieder zu Gefährdungen, weil Kinder nicht rechtzeitig angehört werden. Das Wohlergehen der Kinder ist häufig schon lange in Gefahr, bevor es zu unmittelbarer Gewalt, Missbrauch oder extremen Formen der Vernachlässigung kommt. Der Kindesmissbrauchsfall in Lügde ist dafür eines von vielen traurigen Beispielen aus jüngster Vergangenheit.

Auch im öffentlichen Leben wären Bund, Länder und Gemeinden aufgerufen, Kindern und Jugendlichen mehr Beteiligungsmöglichkeiten zu eröffnen. Das Beteiligungsrecht, das über die Anhörung im gerichtlichen Verfahren hinausgeht, ist ein Grundpfeiler unseres demokratischen Rechtsstaats. Kinder, die an sie betreffenden Entscheidungen beteiligt werden, können später viel leichter Gestaltungsverantwortung für die Gesellschaft übernehmen. Ihre Meinung und die Interessen würden sichtbarer und sie würden bei der Gestaltung des Zusammenlebens mehr einbezogen – frische Luft für unsere Demokratie, statt Klagen über Gleichgültigkeit und Politikabstinenz bei jungen Menschen.

Und, entgegen der Sorgen vieler, würden mit einer gut formulierten Klarstellung der Kinderrechte im Grundgesetz auch die Rechte der Eltern und Familien in Deutschland gestärkt. Denn sie würden dabei unterstützt, ihre Rolle und ihre Verantwortung gegenüber den Kindern wahrzunehmen.

Ich freue mich darauf, unser klares, schlankes Grundgesetz bei seinem nächsten Geburtstag um die Rechte der Kinder bereichert zu sehen.

Georg Graf Waldersee, Vorstandsvorsitzender UNICEF Deutschland
Autor*in Georg Waldersee

Georg Graf Waldersee ist seit 2018 ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender von UNICEF Deutschland.