Fotoreportagen

Mary Rita – Treffen mit einer beeindruckenden Frau


von Beate Jung

Mit meiner Kollegin Sarmili bin ich unterwegs nach Jaffna, zu einem der insgesamt 29 örtlichen Social Care Centre der nördlichen Provinz. Diese Einrichtungen erreichen insgesamt fast 50.000 Familien und arbeiten mit der Regierung, der Provinzregierung, Hilfsorganisationen wie UNICEF und mit dem privaten Sektor zusammen.

Sri Lanka: Sozialarbeiterinnen des Social Care Centres.

Heute darf ich am Meeting des Social Care Centres teilnehmen. Die Sozialarbeiterinnen beraten arme Familien und unterstützen sie mit kleinen finanziellen Starthilfen.

© UNICEF DT/2015/Beate Jung

Zum Centre kommen die Menschen der Gemeinde mit allen möglichen Problemen. Zumeist sind es Frauen aus Familien, die als besonders arm und verletzlich ("vulnerable") gelten. Die Sozialarbeiterinnen – bis auf zwei Männer sind es Frauen – geben ihnen praktische Hilfe: Sie verhelfen zu finanzieller Unterstützung, wenn entsprechende Kriterien erfüllt sind. Sie beraten im Hinblick auf medizinische Hilfe und Ausbildung. Sie kümmern sich um die Unterbringung von Waisen oder Alten, die keine Familie haben und zahlen Menschen, die als behindert eingestuft werden, eine monatliche Unterstützung aus. Sie stellen in den Vorschulen die Versorgung mit Milch und nahrhaften Mahlzeiten sicher und vieles mehr.

Wöchentliche Fallbesprechung im Social Care Centre

Ich darf an einem der wöchentlichen Meetings des Social Care Centres teilnehmen. Es wird der Fall einer Frau diskutiert, die von ihrem Mann wiederholt brutal geschlagen und dann erneut geschwängert wurde. Er behauptet nun, dass das Kind nicht von ihm ist, woraufhin die Schwiegermutter die Frau des Hauses verwiesen hat. Der Frau kann nun zwar drei Monate lang Schutz in einem Frauenhaus gewährt werden, aber was passiert dann?

Die Kolleginnen und Kollegen diskutieren aufgeregt. Es ist einer der Fälle, bei dem in Betracht kommt, der Frau mit einem geringen Startkapital zu einem eigenen Einkommen zu verhelfen, damit sie sich von ihrem Mann endgültig trennen kann. Sie muss dafür aber ein Konzept vorlegen, wie sie das Geld verwenden möchte. Anschließend wird von den Sozialarbeitern geprüft, ob sich die Investitionen auch auszahlen.

Sri Lanka: UNICEF unterstützt arme Familien finanziell.

Mary Rita (40) hat von der Starthilfe des Social Care Centres profitiert. Nach dem Bürgerkrieg hat sie sich und ihren Kindern damit eine neue Existenz aufgebaut.

© UNICEF DT/2015/Beate Jung

Von solch einer Starthilfe hat auch Mary Rita profitiert. Die Hilfe kann mit finanzieller Unterstützung u. a. durch UNICEF gewährt werden. Sie wird von den lokalen Sozialstationen vergeben und später auf ihren Erfolg hin überprüft. Wir treffen die agile und fröhliche Frau nach einer 15-minütigen Fahrt über einen unbefestigten Feldweg vor ihrem kleinen Haus. Hier lebt sie mit ihren vier Kindern – drei Mädchen und einem Jungen – seit ihrer Rückkehr in ihre Heimat, aus der sie in den letzten Bürgerkriegsjahren mit Mann und Kindern geflohen war. Der Mann hat sie während des Krieges verlassen, zurück kommt sie ohne ihn. Ich frage sie, was sie vorfand, als sie 2010 an der Stelle stand, an der sie groß geworden war. Mary erzählt lebhaft, vieles kann ich an ihren Gesten erkennen, auch wenn ich kein Wort Tamil verstehe.

Startkapital als Hilfe zur Selbsthilfe

Sie und zwei weitere Familien stehen damals vor einem ungerodeten Acker, der ihnen zugewiesen wird. Von der Gemeinde bekommt sie 500 Rupien (etwa 3,30 Euro) pro Tag für die Rodung des Weges, der zu ihren Grundstücken führt. Sie baut gemeinsam mit den anderen beiden Rückkehrer-Familien eine Behelfsunterkunft für sich und ihre Kinder. Das jüngste Mädchen, Thonyshya, ist damals gerade ein Jahr alt. Ein Jahr später kann sie mit der Unterstützung einer Schweizer Organisation, der Swiss Development Cooperation, ihr kleines Haus bauen. Doch wie und wovon soll sie ihre Familie ernähren?

Sri Lanka: UNICEF-Mitarbeiterin Beate Jung mit Mary Rita und ihren Kindern.

Mithilfe von UNICEF und dem Social Care Centre hat sich Mary Rita (2. v. l.) eine eigene kleine Boutique aufgebaut. Inzwischen wirft ihr Geschäft auch Gewinn ab.

© UNICEF DT/2015/Beate Jung

Sie bewirbt sich beim örtlichen Social Care Centre erfolgreich um eine Gründer-Unterstützung. Ihre Idee: Sie will Kleidung von Näherinnen der Umgebung kaufen und auf Märkten und über Mund-zu-Mundpropaganda weiterverkaufen, eine kleine mobile Boutique. Sie bekommt 40.000 Rupien; für 25.000 kauft sie Kleidungsstücke ein, die restlichen 15.000 investiert sie in einen verschließbaren Schrank, in dem sie die Kleidung lagern kann. Schon bald verdient sie gut, macht 4.000 bis 5.000 Rupien Gewinn pro Monat. Denn sie ist die Erste mit dieser Idee einer kleinen mobilen Boutique. Und sie ist bei aller Armut stilsicher, das zeigt schon ihr gemütliches winziges Haus.

Ein herber Rückschlag

Doch dann bricht eine neue Katastrophe über die Familie herein: Kavitharan, ihr 14 Jahre alter Sohn, verliert durch eine Landmine seinen rechten Fuß und Unterschenkel. Ich frage den heute 15-jährigen, ob er mir erzählen möchte, was vor gut einem Jahr am 31. Mai 2014 passiert ist. Der Junge schaut verlegen unter sich, ich merke sofort, dass er darüber nicht vor einer Fremden sprechen kann. Mary erzählt für ihn.

Mit zwei Freunden sei er an einem Samstag losgezogen, um in der Nähe Nüsse zu pflücken. Sie selbst ist an diesem Tag zum Verkauf auf einem Markt. Nachdem sie reichlich Nüsse gefunden haben, machen sich die drei Jungen auf den Rückweg. Der Weg führt über einen schmalen Trampelpfad. Kavi geht als letzter hinter seinen Freunden her. Warum er, gerade er den falschen Tritt macht? Niemand kann ihm diese Frage beantworten. Doch ändert dieser eine Schritt sein Leben. Die Freunde bringen ihn unter Schock ins Krankenhaus. Unterwegs treffen sie auf Mary Rita, die vom Markt zurückkommt und mit in das Dreirad steigt, das die Freunde unterwegs aufgetrieben haben.

Sri Lanka: Kavitharan vor seinem Haus.

Nachdem Kavitharan (15) vor einem Jahr sein Bein verloren hatte, kämpfte er sich tapfer zurück in den Alltag.

© UNICEF DT/2015/Beate Jung

Zwei Monate lang begleitet Mary Rita ihren Sohn fast täglich ins Krankenhaus. Er bekommt eine Unterschenkelprothese, die vom Staat bezahlt wird. Doch alle zusätzlichen Kosten für Medikamente, Spezialstrümpfe etc. muss die Familie selbst zahlen, erzählt die zähe kleine Frau, die bei allem Ernst eine unglaublich positive und warme Ausstrahlung hat.

Voller Kraft zurück in den Alltag

Arbeiten kann Mary während dieser Zeit nicht, sie muss sich in erster Linie um Kavi kümmern. Beide kämpfen sich auf ihre Art wieder zurück. Er kann nach knapp drei Monaten wieder in die Schule gehen und holt den verpassten Stoff auf. Kavi ist ein sehr guter Schüler, will gern die weiterführende Schule besuchen. Was genau er später machen will, weiß er noch nicht. „Studying“ ist seine Antwort auf diese Frage. Er ist aber nach wie vor sehr traurig darüber, dass er keinen Sport machen kann, denn vor seinem Unfall war er ein toller Sportler. Immerhin, so sagt er, schafft er es, mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren.

Sri Lanka: Mary Rita in ihrem Garten.

Neben der Boutique betreibt Mary Rita einen kleinen Nutzgarten und züchtet Hühner. Stolz zeigt sie mir ihren Garten.

© UNICEF DT/2015/Beate Jung

Mary verkauft wieder und immer besser Kleidung. Oft wird sie von ihren Kunden angerufen und beauftragt, ihnen etwas Passendes zu besorgen. Nebenher erweitert sie ihren Nutzgarten und die Hühnerhaltung – beides zeigt sie mit Stolz – um auch hieraus Profit zu machen. „A well“ („Ein Brunnen“) – das ist ihr sehnlichster Wunsch, um diesen Geschäftszweig sichern und ausbauen zu können. Dafür legt sie regelmäßig Geld zurück.

Ich bin mir sicher: Sollte ich jemals wieder zu ihrem kleinen Haus zurückkehren, ich werde einen Brunnen dort vorfinden!

Lesen Sie alle Blogbeiträge unserer Kollegin Beate Jung aus Sri Lanka.

Beate Jung, UNICEF Deutschland
Autor*in Beate Jung

Beate Jung ist Mitarbeiterin bei UNICEF Deutschland und berichtet von der Arbeit im UNICEF Country Office in Sri Lanka.