© UNICEF/UNI286347/AbdoullahSyrien: Kinder sitzen auf der Ladefläche eines Trucks, der durch eine zerstörte Stadt in Idlib fährt.
Meinung

Katastrophe in Idlib: „Wir müssen den Kindern beistehen“

Kann man sich an Schrecken und Gewalt gewöhnen? Lassen sich Not und Elend endlos steigern? UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore hat dem UN-Sicherheitsrat das Leid der syrischen Mädchen und Jungen vor Augen geführt. Die wichtigsten ihrer Aussagen und Forderungen habe ich für Sie übersetzt und kommentiert. 


von Rudi Tarneden

Zur Flüchtlingskrise in Syrien

UNICEF-Direktorin Henrietta Fore zur Lage der Kinder in Syrien vor dem UN-Sicherheitsrat *

Am 15. März 2011, vor neun Jahren, begann der Bürgerkrieg in Syrien.

„Die Situation wird von Tag zu Tag schlimmer. Über 900.000 Menschen, darunter über eine halbe Million Kinder, sind seit Dezember vor der Eskalation der Gewalt im Nordwesten Syriens geflohen – fort von zu Hause und in Gefahr. Eine unfassbare Massenflucht in kürzester Zeit.“

Syrien: Kinder sitzen auf der Ladefläche eines Trucks, der durch eine zerstörte Stadt in Idlib fährt.
© UNICEF/UNI286347/Abdoullah

Die Lage der Familien, von denen viele schon mehrfach, manche bis zu siebenmal vertrieben wurden, ist bitter:

„Zehntausende leben in notdürftig errichteten Zelten, öffentlichen Gebäuden oder im Freien, dicht gedrängt unter Bäumen. Sie sind Regen, Schnee und Kälte ausgesetzt.“

Zwischen den Frontlinien gibt es keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung – ein Albtraum:
„Die jüngsten Bombardierungen von notdürftigen Lagern und Schulen in Idlib sind verwerflich und abscheulich. Wir haben Berichte erhalten, dass Kinder erfroren sind.“

Durch die erneute Zuspitzung des Bürgerkrieges können über 280.000 Kinder in der Provinz nicht mehr zur Schule gehen.

Syrien: Ein zerstörter Klassenraum in einer Schule in Idlib.
© UNICEF/UNI306328/Suleiman

„Zugang zu medizinischer Hilfe existiert praktisch nicht mehr oder ist unbezahlbar. Krankenhäuser werden angegriffen, 72 haben ihre Arbeit wegen der Kämpfe eingestellt.“

Doch die aktuelle Situation in Idlib ist nur ein weiterer trauriger Höhepunkt der syrischen Katastrophe.

Über die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen und jede dritte Schule in Syrien ist außer Betrieb. Die Wirtschaft ist im freien Fall.

UNICEF-Direktorin Henrietta Fore
UNICEF-Direktorin Henrietta Fore im Februar vor dem UN-Sicherheitsrat

Der Preis, den die Bevölkerung, den vor allem die Jungen und Mädchen zahlen müssen, ist kaum zu fassen: Fast elf Millionen Syrer – die Hälfte davon Kinder – sind heute auf humanitäre Hilfe angewiesen.

„Schätzungsweise 6,5 Millionen Syrer müssen hungern, da die Versorgung mit Lebensmitteln nicht mehr sichergestellt ist. Viele Familien müssen ihren Haushalt verkaufen, oder ihre Kinder arbeiten schicken, um nur die notwendigsten Dinge zu kaufen. Jedes dritte Kind geht nicht mehr zur Schule“.

Entsetzlich hohe Zahl von Opfern

Das Scheitern der internationalen Bemühungen, diesen Bürgerkrieg zu stoppen, wird nirgends so sichtbar, wie an der entsetzlich hohen Zahl der Opfer, deren Leben für immer zerstört wurde.

„Allein in 2018 wurden 1.100 Kinder bei Kämpfen getötet, die höchste Zahl getöteter Kinder in einem Jahr seit Beginn des Krieges; im letzten Jahr waren es mit 900 getöteten oder verstümmelten Kindern kaum weniger. Dies sind nur die, die wir verifizieren konnten, die tatsächliche Zahl ist noch viel höher.“

Syrien: Zwei Kinder stehen vor einem provisorisch aufgestelltem Zelt.
© UNICEF/UNI302772/Akacha

Die abscheuliche Missachtung elementarer Rechte von Kindern und des Völkerrechts in Syrien hinterlässt tiefe Spuren: „Eines von vier Kindern steht in Gefahr, schwere psychische Störungen davonzutragen.“ Ein Leben lang.

Zusammen mit seinen Partnern führt UNICEF in Syrien und in seinen Nachbarländern die derzeit größte Nothilfeoperation durch:

„Im letzten Jahr haben wir 1,8 Millionen Mütter und Kinder auf ihren Ernährungszustand untersucht. Wir haben zwei Millionen medizinisch versorgt. 7,4 Millionen Menschen in ganz Syrien haben Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen erhalten. 400.000 Frauen und Kinder haben psychosoziale Unterstützung und Beratung aufgesucht und 1,8 Millionen Kinder konnten durch unsere Hilfe weiter zur Schule gehen.“

Trotzdem: Die Not ist überwältigend und übersteigt die vorhandenen Möglichkeiten.

Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht vor der Gewalt.
© UNICEF/Syria2020/Muhammad Wasel

Angesichts der dramatischen Situation der syrischen Kinder neun Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs fordert Henrietta Fore im Namen von UNICEF:

Erstens: Wir fordern alle Konfliktparteien in Syrien auf, die Kinder und die lebensnotwendige Infrastruktur, die sie und ihre Familien so dringend brauchen – wie Schulen, Krankenhäuser oder Wasserwerke – zu schützen.“

Zweitens: Wir brauchen dringend eine Waffenruhe im Nordwesten Syriens. Bis es dazu kommt, muss es regelmäßige Kampfpausen geben, damit Zivilisten sich in Sicherheit bringen können.“

Drittens: Wir brauchen besseren Zugang, um die Menschen effektiv und schnell zu erreichen – von innerhalb Syriens aus und über die Landesgrenzen hinweg. Dazu gehört die Erlaubnis für humanitäre Konvois für medizinische Güter von Damaskus aus oder über die Grenze nach Nordost-Syrien sowie Visa und Reiseerlaubnisse.“

Viertens: Wir fordern alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf, ihrer Verpflichtung nach der UN-Konvention über die Rechte des Kindes nachzukommen, Kinder auf sichere und freiwillige sowie würdevolle Weise zurückzuführen. Die Bedingungen, unter denen viele Kinder – insbesondere in ehemaligen vom sogenannten „Islamischen Staat“ kontrollierten Gebieten – leben, erlauben nicht ihre ausreichende Versorgung und ihren Schutz. (…) Wir fordern auch alle Behörden auf, Kinder aus Gefängnissen herauszuholen und sie angemessen unterzubringen.“

Fünftens: Wir erneuern unsere Aufforderung an den UN-Sicherheitsrat, eine politische Verhandlungslösung zu unterstützen, die diesen Krieg ein für alle Mal beendet.“

„Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr Kinder werden vor unseren Augen sterben.“

„Ein Kind, das beim Ausbruch dieses Krieges geboren wurde, ist heute neun Jahre alt. Müssen wir ihm gegenüber zugeben, dass Frieden nicht erreichbar ist, dass wir unfähig oder nicht bereit sind, diesen zerstörerischen Krieg zu stoppen?“

In behelfsmäßigen Zeltsiedlungen sind Tausende syrische Kinder untergekommen.
© UNICEF/Syria2020/Ammar Alzeer

„Wir müssen ihnen (den Kindern) beistehen. Wir müssen ihnen sagen, dass wir uns für Frieden entschieden haben. Die Geschichte wird hart über uns urteilen, wenn wir dies nicht tun.“

Ich möchte helfen

Sie möchten der katastrophalen Notsituation, in der sich die syrischen Kinder befinden, nicht tatenlos zusehen? Dann unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende:

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Nothilfe Syrienkrise

* Das Statement von Henrietta Fore vor dem UN-Sicherheitsrat vom 27.2.2020 ist hier in Auszügen wiedergeben. Den kompletten Wortlaut ihrer Rede können Sie hier im Originalartikel nachlesen. Oder Sie können sich Henrietta Fores Statement in einer Videoaufzeichnung ansehen (beginnend bei Minute 18).

Rudi Tarneden
Autor*in Rudi Tarneden

Rudi Tarneden war von 1995 bis 2023 Sprecher von UNICEF Deutschland.