UNICEF-Aktionen

Niemals Gewalt gegen Kinder: Diese Studie muss uns aufrütteln

Es ist eine bittere Wahrheit: Für einen Teil der deutschen Bevölkerung ist Gewalt gegen Kinder weiter akzeptabel – das belegt eine neue Studie von UNICEF und Partnern. Doch das Bewusstsein für die oft lebenslangen Folgen von Gewalt wächst.


von Kerstin Bücker

Dunkel wölben sich die Buchstaben im Nacken des Mädchens: VERSAGER. Ein Kind versucht, ein hässliches Wort auf seinem Arm wegzuschrubben – NICHTSNUTZ! Ein Junge fühlt sich tief im Innern als PRÜGELKNABE, diese Buchstaben haben sich auf – oder in? - seinem Bauch festgesetzt. Das UNICEF-Video zeigt harte Bilder, damit eine harte Realität sichtbar wird: Gewalt durch Mutter, Vater oder andere Erziehende ist für viele Kinder Alltag – und sie geht den Mädchen und Jungen buchstäblich unter die Haut.

Wie sehr das Problem auch in Deutschland verbreitet ist, zeigt eine aktuelle repräsentative Studie, durchgeführt von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm mit Unterstützung von UNICEF Deutschland und dem Deutschen Kinderschutzbund. Die Wissenschaftler fragten 2.500 Personen, was sie von Körperstrafen halten, und verglichen die Aussagen mit Daten aus den Jahren 2001, 2005 und 2016.

Das Ergebnis muss uns aufrütteln: Trotz positiver Entwicklungen sehen viele Menschen in Deutschland körperliche Bestrafung weiter als angebracht an. Fast jeder Zweite ist noch immer der Auffassung, dass ein Klaps auf den Hintern noch keinem Kind geschadet habe. Und jeder Sechste hält es sogar für angebracht, ein Kind zu ohrfeigen. Dabei finden Männer und ältere Befragte körperliche Gewalt eher akzeptabel als Frauen und jüngere Befragte.

Ich finde diese Ergebnisse erschreckend. Denn Gewalt gegen Kinder ist bei uns unmissverständlich nicht erlaubt. Seit genau 20 Jahren hat jedes Kind das verbriefte Recht auf eine gewaltfreie Erziehung. Im Bürgerlichen Gesetzbuch heißt es seitdem klipp und klar: "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Gewalt hat also in der Erziehung nichts verloren und ist durch nichts zu rechtfertigen. Gemäß der UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind auf der Welt bereits seit 1989 ein Recht darauf, ohne Gewalt groß zu werden. Doch das allein reicht nicht. Das Recht muss auch bei jedem einzelnen Kind ankommen.

Gewalt kann schwere Folgen haben

Schätzungen zufolge hat ein Drittel der heute Erwachsenen in Deutschland in der Kindheit mindestens eine Form mittelschwerer bis schwerer Gewalt erlebt. Veränderungen brauchen auch deshalb so lange, weil Gewalt oft von Generation zu Generation weitergegeben wird: Menschen, die selbst Gewalt in der Erziehung erlebt haben, halten sie eher für akzeptabel. Sie wenden deshalb auch bei ihren eigenen Kindern mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit Gewalt an – was man selbst in der eigenen Familie erlebt und überstanden hat, "kann nicht so schlimm sein".

Bis heute ist vielen Menschen nicht bewusst, dass Kindern jegliche Form von Gewalt schadet – die Ohrfeige, der berühmte Klaps auf den Hintern, aber auch die oft übersehene psychische Gewalt, Beschimpfungen wie "Du Versager!" oder bohrende Sätze wie "Du wirst es nie zu etwas bringen." Demütigungen und emotionale Vernachlässigung kommen "in den besten Familien" vor, viele Kinder sind ihnen tagtäglich ausgesetzt. Und genau das wollen wir oft nicht sehen.

Im Nacken eines Mädchens ist "Versager" zu lesen

Gewalt hinterlässt Spuren – Angst und das Gefühl der Demütigung lassen viele Kinder ein Leben lang nicht mehr los.

© UNICEF/UNI394313/Madeline Kelly

Dabei wird mittlerweile mehr und mehr erforscht und verstanden, wie sehr Gewalterlebnisse die Gesundheit und die Entwicklung von Kindern beeinträchtigen können – viel stärker als bisher geglaubt. Wiederholte Gewalterfahrungen können sich auf das gesamte Leben deutlich negativ auswirken. Das fängt damit an, dass Kinder sich in der Schule nicht konzentrieren können, später in der Pubertät "problematisch" werden oder ihren Schmerz mit Drogen betäuben.

Und Menschen, die in der Kindheit körperliche Gewalt erlebt haben, haben ein deutlich erhöhtes Risiko, auch andere Formen von Gewalt zu erleben. Auch darauf weist die neue Studie hin. Und je mehr belastende Erfahrungen ein Kind insgesamt machen muss, desto höher das Risiko für negative Folgen.

Können Sie sich vorstellen, was in einem Kleinkind vorgeht, das von Erwachsenen immer wieder laut angeherrscht wird oder ständig streitende Eltern miterleben muss? Es erlebt toxischen Stress, der sich tief ins Unterbewusstsein eingraben und wie Gift auf die gesamte Entwicklung auswirken kann. Wissenschaftler haben bei Kindern, die zu Hause Gewalt erlebt haben, die gleichen Hirnaktivitäten festgestellt wie bei Soldaten, die im Kampfeinsatz waren.

Gewalt gegen Kinder: Ein Mädchen sitzt mit einem Stofftier auf dem Boden.

Über ihre Erlebnisse können Kinder oft nicht sprechen – manche vertrauen sich ihrem Stofftier an (Symbolbild).

© UNICEF/UN0365087/Knecht

Kinder sind Kinder – und nehmen die Welt ganz anders wahr als Erwachsene. Ich selbst erinnere mich noch gut daran, wie ich als kleines Mädchen einmal furchtbare Angst hatte – dabei war der Anlass ein vergleichsweise harmloser. Ein Erwachsener hatte einen Scherz machen wollen und mir am Telefon erzählt, ein Menschenfresser wäre zu mir unterwegs. Ich sehe mich bis heute in Tränen aufgelöst in einer Zimmerecke kauern, ganz sicher, dass ich jetzt sterben müsse.

Für viele Kinder sind Erlebnisse von Gewalt und existenziellem Ausgeliefertsein kein Scherz und auch kein schlechter Traum. Sie leben mit ihren Peinigern unter einem Dach, sind von ihnen materiell und emotional abhängig. Gleichzeitig zeigen betroffene Kinder oft eine große Widerstandskraft und können das Erlebte verarbeiten – besonders dann, wenn ihnen andere Menschen Vertrauen, Anerkennung und Unterstützung schenken. Selbst wenn Gewalt Spuren hinterlässt, ist die Situation also niemals ausweglos.

Gewalt in der Kindheit bewegt viele Menschen bis heute – das zeigt die aktuelle Diskussion auf Social-Media-Kanälen. Sehr bewegt hat mich ein Kommentar, den wir über Facebook erhalten haben. Eine Userin hatte die UNICEF-Kampagne #NiemalsGewalt gesehen und dazu kommentiert: "Habe es auch erleben müssen, heute bin ich 80 und 'es' verfolgt mich immer noch! Lebenslang verurteilt!" Viele weitere Menschen berichten uns auf Social Media von ähnlichen Erlebnissen, diskutieren untereinander und teilen die Infos zur Kampagne #NiemalsGewalt.

Ein Kind, das an der Supermarktkasse von Mutter oder Vater geohrfeigt wird, würde heute aller Wahrscheinlichkeit nach Hilfe erhalten. Doch hinter verschlossenen Türen, im Privaten ist das noch längst nicht garantiert. Deshalb braucht es Menschen, die die Lage der Kinder wahrnehmen, sie ernst nehmen und Hilfe organisieren – zum Beispiel über fachlich fundierte Hilfsangebote.

Gewalt gegen Kinder: Eine UNICEF-Helferin hängt Plakate auf.

Gewalt nicht unter den Teppich kehren – dafür setzen sich die ehrenamtlich für UNICEF Engagierten ein.

© UNICEF/UNI369528/Herbach

Es ist eine gesellschaftliche Daueraufgabe, Gewalt niemals zuzulassen. Dafür setzt UNICEF sich weltweit ein und hilft, Millionen Erziehende mit passenden Angeboten zu erreichen. UNICEF unterstützt deshalb in rund 80 Ländern weltweit "Parenting"-Programme für junge Leute und Familien. Eltern, Schulen, Gemeinden und religiöse Führer engagieren sich zusammen gegen Gewalt und gehen Probleme gemeinsam an. Mit Programmen wie dem "Happy family programme" oder "Parenting for life-long health" auf den Philippinen werden Familien unterstützt und gestärkt. So können ihre Kinder von klein auf gesund und ohne Gewalt aufwachsen. Im UNICEF-"Parenting Hub" finden Eltern auf der ganzen Welt Tipps und Wissen über kindliche Entwicklung und Erziehung (in englischer Sprache).

Ganz gleich wo und wie Gewalt stattfindet: Kinder können sich selbst nicht davor schützen! Und deshalb dürfen wir Gewalt niemals als normal, unvermeidlich oder Privatsache ansehen – und müssen ihr mit aller Entschiedenheit entgegentreten. #NiemalsGewalt

Kerstin Bücker
Autor*in Kerstin Bücker

Kerstin Bücker leitet den Bereich Kommunikation und Kinderrechte bei UNICEF Deutschland.