Meinung

Eine Krise – vor allem für die Kinder


von Christian Schneider

UN-Gipfel zu Flucht und Migration ab heute in New York

Wenn heute früh die Staats- und Regierungschefs, die Minister und ihre Delegationen in den Saal der Generalversammlung bei den Vereinten Nationen strömen, dann wird der Eingang zu beiden Seiten von Kindern und Jugendlichen gesäumt sein.

Beim ersten der beiden „Zwillingsgipfel“ zu Flucht und Migration hier in New York stehen Vertreter von über 120 Ländern auf der Rednerliste. Vieles muss besprochen werden. Nie zuvor haben so viele Menschen aus Angst, weil sie durch Krieg und Gewalt vertrieben wurden, oder aus wirtschaftlicher Not ihr Land verlassen. Erstmals widmet sich die Staatengemeinschaft gemeinschaftlich diesem großen Thema unserer Zeit, um humanere, koordiniertere, bessere Ansätze zu finden, für diese Menschen.

Mädchen in der Nähe der griechisch-mazedonischen Grenze

Bild 1 von 5 | Fast 50 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit mussten ihr Zuhause verlassen – auf der Suche nach Sicherheit und einem menschenwürdigen Leben. Mädchen in der Nähe der griechisch-mazedonischen Grenze im Februar 2016.

© UNICEF/UN011166/Georgiev
Der 12-Jährige Sagga kommt aus Eritrea

Bild 2 von 5 | Der 12-Jährige Sagga (vorne) kommt aus Eritrea. Er ist in einem Gefangenenlager in Libyen gelandet.

© UNICEF/UNI187377/Romenzi

Bild 3 von 5 | Ein Mädchen steht vor den Trümmern des Familienhauses in Gaza. Wie sieht seine Zukunft aus?

© UNICEF/UNI188295/El Baba

Bild 4 von 5 | Elias, 14, aus dem Jemen. Der Bürgerkrieg hat 2,8 Millionen Menschen in die Flucht gezwungen, darunter fast 1,3 Millionen Kinder.

© UNICEF/UN028052/Fuad
Zwei syrische Flüchtlingskinder in Jordanien. © UNICEF Jordan/Al-Masri

Bild 5 von 5 | Diese beiden syrischen Kinder müssen in einem Flüchtlingscamp in Jordanien ausharren.

© UNICEF Jordan/Al-Masri

Moment der Menschlichkeit, zur richtigen Zeit

Und während die Menschen in Syrien von einem Tag der zerbrechlichen Waffenruhe zum nächsten bangen, in der Hoffnung, dass endlich Hilfe zu ihnen durchdringt, während Hunderttausende in afrikanischen Ländern wie Äthiopien Zuflucht vor der Gewalt in ihrer Heimat Somalia oder Südsudan suchen, geht es auch weit weg in New York um einen Moment der Menschlichkeit. Es geht um eine erneute, hoffentlich starke Verpflichtung auf die Menschenrechte aller Menschen, auch und gerade, wenn sie entwurzelt sind, wenn sie ohne Hab und Gut und ohne Dokumente ihre Heimat verlassen mussten.

Kinder mit Schildern bei der Mahnwache
© UNICEF DT/ Christian Schneider

Für mich gehören die Mädchen und Jungen heute morgen zu den wichtigsten Gästen des Gipfels. Denn sie sorgen schon mit ihrer Gegenwart und mit den Fotos von Flüchtlingskindern dafür, dass bei keiner dieser Ansprachen das Schicksal des ertrunkenen Jungen Aylan Kurdi vergessen wird, der Schrecken im blutverschmierten Gesicht des kleinen Omram Daqneesh nach der Zerstörung seines Hauses in Aleppo, das stille Leiden von Amira, die ich nach ihrer Flucht im Libanon traf.

Millionenfache Flucht – eine Krise der Kinder

Die zwei Tage in New York müssen auch und vor allem den Kindern gewidmet sein, und sie sollen für diese Kinder ein Ergebnis bringen: mehr Sicherheit auf ihrem gefährlichen Exodus, mehr Menschenwürde, wo auch immer sie stranden, ein Stück Kindheit, die diesen Namen verdient – so lange sie noch Kinder sind.

„Kinder zuerst“ – Mahnwache vor den Vereinten Nationen

Wie so oft kommen die stärksten Stimmen für die Rechte der Kinder auch an diesem Abend vor dem Beginn der Weltgipfel – von den Kindern selbst. Natasha (14) aus Simbabwe und Minahil (15) aus Pakistan lassen im UNICEF-Haus keinen Zweifel daran, dass sie den politischen Führern der Welt ins Gewissen reden wollen. „Kinder verdienen eine Kindheit“, rufen sie dem deutschen Entwicklungsminister Dr. Gerd Müller und weiteren Regierungsvertretern zu.

Und meinen mit Kindheit vor allem auch Zugang zu Schulbildung: Es geht mir lange nach, wie vehement die junge Minahil immer wieder Schule als den wichtigsten Ort für Kindheit beschreibt, „einer der besten Plätze, die ich kenne, der Ort, an dem ich alles um mich herum vergesse.“ Und dann sagt sie: „Wenn ich das Klassenzimmer betrete, bin ich nicht mehr Flüchtling, sondern wieder Kind.“

Lichteraktion in New York

Bild 1 von 3 | Mahnwache in New York: Kerzen für Menschen auf der Flucht.

© UNICEF DT/ Christian Schneider
Intensive Gespräche im Rahmen der Weltgipfel zu Flucht und Migration.

Bild 2 von 3 | Kristalina Georgieva, Vizepräsidentin der EU-Kommission, Natasha Maimba aus Simbabwe und Minahil Sarfraz aus Pakistan führen intensive Gespräche im Rahmen der Weltgipfel zu Flucht und Migration.

© UNICEF DT/ Christian Schneider
Ewan McGregor spricht für Kinder auf der Flucht.

Bild 3 von 3 | Auch UNICEF-Botschafter Ewan McGregor ist nach New York gekommen, um Kindern auf der Flucht eine Stimme zu geben.

© UNICEF DT/ Christian Schneider

Gemeinsam mit dem Schauspieler und UNICEF-Botschafter Ewan McGregor, mit vielen Kindern und Jugendlichen, UNICEF-Kolleginnen und -Kollegen und Partnerorganisationen zünden wir dann bei einer Mahnwache vor den Vereinten Nationen Kerzen für die Kinder auf der Flucht an. Es sind sicher ein paar Hundert. Es müssten 28 Millionen sein. So viele Kinder sind durch Krieg und Gewalt aus ihrem Zuhause vertrieben worden, haben den Tod von Angehörigen erlebt, den Beschuss ihres Hauses, die Attacken von Heckenschützen auf ihre Geschwister oder Freunde. 17 Millionen von ihnen sind noch in ihrer Heimat auf der Suche nach Sicherheit. Viel zu sachlich nennen wir sie „Binnenvertriebene“.

Schule – Ort der Hoffnung

Wo sich die Chance auftat, haben wir schon im Vorfeld der Gipfel versucht, die Verletzlichkeit der Kinder und ihre besonderen Bedürfnisse an die Regierungsdelegationen heranzutragen, ihren Blick dafür zu schärfen. Unter den sechs wesentlichen Empfehlungen von UNICEF ragt für mich heraus, was auch für Natasha und Minahil so wichtig ist: Wir müssen, wo auch immer Kinder unter Krieg und Flucht leiden, sicherstellen, dass sie weiter lernen und spielen können, dass sie Zugang zu psychosozialer Hilfe haben. Das wird auch nach den Gipfeln unser wichtigstes Anliegen bleiben. Und Sie können dabei sein, wenn Sie unsere Kampagne „Kindheit braucht Frieden“ persönlich unterstützen.

Die beiden Jungen Ali und Gaith aus der umkämpften Stadt Mossul, die so gerade ihr Leben, und nur das, in das nordirakische Lager Harsham retten konnten, machen das in unserem Video besser deutlich als viele Worte: Schule, so einfach und provisorisch sie sein mag, ist wirklich der wichtigste Ort für Kinder, wenn sie von einem Zuhause schon nicht mehr zu träumen wagen.

Ein Gipfeltreffen nicht ÜBER Flucht, sondern FÜR Flüchtlinge

Flucht hat immer mit Angst zu tun, aber immer auch mit Hoffnung.

2016 ist bisher ein Jahr der unerträglichen Bilder aus Aleppo und vielen anderen zäh umkämpften Orten dieser Welt. Die Realität der Betroffenen und unsere Nachrichtenwelt ist geprägt von Detonationen, von Verwüstung, von Verletzten und Verzweifelten. Die beiden Gipfel in New York bieten der Staatengemeinschaft und damit allen Menschen auf der Flucht die Möglichkeit, die Hoffnung mit konkreten Chancen zu unterlegen, mit menschenwürdiger Aufnahme und dem Recht eines jeden Kindes auf eine Kindheit, in Sicherheit.

Und vielleicht hallt in den Konferenzräumen der Vereinten Nationen nach, was die 14-Jährige Natasha aus Simbabwe, heute Irland, uns zurief:
„Wenn Kinder heute nicht gut behandelt werden, wie soll dann erst die Welt von morgen aussehen?“

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.