Gut zu wissen

Syrien: Abitur unter Lebensgefahr

Rama (Name geändert) weiß, wie gefährlich und langwierig der Weg zum Abitur sein kann. In ihren eigenen Worten erzählt sie uns von ihrem Schulalltag im syrischen Bürgerkrieg: Von Bomben in Aleppo, Extremisten in Rakka – und ihrem wertvollsten Besitz, den sie auf jeder neuen Flucht dabei hatte.


von Katharina Kesper OO

Wenn man Ramas Bericht liest, kann man sich nur schwer vorstellen, wie hoch ihr Einsatz gewesen ist, um ihr Abitur zu machen. Rama ist 18 Jahre alt und lebt in einem Vorort der syrischen Stadt Aleppo. Rama hat einen großen Traum: Sie möchte einmal Ärztin werden.

Abitur in Syrien: Rama sitzt an einem Schreibtisch und lernt für ihre Prüfungen. Ihr Gesicht ist zu ihrem Schutz nicht zu sehen.

Rama liebt das Lernen und geht gerne zur Schule. Doch der Weg bis zu ihrem Schulabschluss ist langwierig und gefährlich. Zu ihrem Schutz wurde sie so fotografiert, dass man ihr Gesicht nicht erkennen kann.

© UNICEF/UN070697/Al- Issa

Ramas Bericht aus Aleppo

„Schon früh musste ich lernen, dass mein Wunsch nach einem guten Schulabschluss ein harter und langer Weg werden würde. Als ich in der achten Klasse war, konnte ich wegen der anhaltenden Kämpfe in meiner Stadt nicht weiter zur Schule gehen, weil der Weg dorthin sehr gefährlich war. Viele Schulen wurden sogar angegriffen und bombardiert. Ich war darüber sehr traurig, aber aufgeben wollte ich so schnell nicht. Ich habe zu Hause weitergelernt und versucht, mir so viel wie möglich selbst beizubringen. Ich wollte unbedingt die Zwischenprüfung im nächsten Jahr bestehen.

Doch es kam anders. Die Schulen in Aleppo wurden geschlossen und ich wusste, ich würde meine Prüfungen hier nicht ablegen können. Meine Familie beschloss wenig später, dass wir nach Rakka ziehen würden. Hier sollten meine Geschwister und ich weiter zur Schule gehen.

Im vom IS beherrschten Rakka konnten Mädchen nur heimlich lernen

Jedes Mal, wenn ich ein wenig Hoffnung schöpfte und mich wieder auf die Schule freute, lehrte mich der Krieg in Syrien eines Besseren. Extremistische Truppen haben zwei Monate nach unserer Ankunft in Rakka die Stadt übernommen. Die Schulen wurden geschlossen und Bildung wurde verboten – insbesondere für Mädchen. Meine Freundinnen und ich mussten ab jetzt heimlich lernen und unsere Schulbücher verstecken. Einen Tag vor unserem Prüfungstermin gingen wir nach Deir ez-Zor (Anm. UNICEF: Dort fanden die zentralen Prüfungen zum Ende von Mittel- und Oberstufe statt).

Die Route weiter südöstlich von unserer Heimat war gefährlich und lang. Wir mussten mehrere Kontrollposten passieren und zu Fuß durch einen Fluss laufen. Das alles störte mich aber nicht. Ich hatte mein Ziel fest vor Augen: die Prüfungen bestehen. Für mich und für meine Eltern, die immer alles getan hatten, um uns Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen.

Bildung trotz Krieg: So hilft UNICEF syrischen Kindern

Es war ein unbeschreibliches Glücksgefühl, als ich die Prüfungen bestanden hatte und in die Oberstufe versetzt wurde. Meine Familie und ich sind kurz darauf zurück nach Aleppo gezogen. Aber leider war der Krieg noch nicht vorbei. Immer wieder mussten wir mitten in der Nacht gemeinsam mit unseren Nachbarn die Stadt verlassen – wir flohen dann in benachbarte Dörfer oder einfach auf offene Felder.

Alles, was wir dann dabei hatten, waren ein paar Kleidungsstücke. Und mein Zeugnis. Es war das Wertvollste, das ich hatte. Immer, wenn wir unser Zuhause verlassen mussten, hatte ich es bei mir. Ohne mein Zeugnis würde ich keinen höheren Abschluss machen können und später nicht studieren.

In den Zeiten, in denen es relativ ruhig und sicher war, konnte ich es kaum ertragen, nicht zur Schule zu gehen. Manche meiner Freunde haben Aleppo inzwischen verlassen, manche von ihnen müssen arbeiten. Ich und meine Freundin Fatima haben immer weiter und weiter gelernt. Ich hatte immer die Hoffnung, dass es sich eines Tages auszahlen würde. Und ich sollte Recht behalten. Ein halbes Jahr, bevor die Abiturprüfungen anstanden, öffnete eine Schule in Aleppo.

Da es die einzige offene Schule war, mussten wir einen langen Weg zurücklegen. Wir hatten gerade genug Zeit, um all den verpassten Stoff nachzuholen und den Lehrplan einzuhalten. Manchmal hörten wir Explosionen auf dem Weg. Immer, wenn ich Angst bekam, sagte mein Vater zu mir: 'Bildung bedeutet für dich Überleben. Gib sie niemals auf.'

Kinder in Syrien legen ihre Prüfungen ab

Syrien - Bildung trotz Krieg: Saleh lernt auch unter schweren Umständen.

Bild 1 von 4 | „Ich möchte ein Vorbild für meine kleinen Geschwister sein. Wenn sie sehen, dass ich immer weiter lerne – auch, wenn die Umstände oft nicht einfach sind – werden sie es später sicher genauso machen.“ Saleh* (15)

© UNICEF/UN070678/Al-Issa
Syrien - Bildung trotz Krieg: Nadeen will unbedingt Lehrerin werden.

Bild 2 von 4 | „Es war eine schreckliche Zeit für mich, als ich nicht zur Schule gehen konnte. Als ich dann für meine Prüfung nach Aleppo gefahren bin, hatten meine Eltern große Angst, weil der Weg sehr gefährlich ist. Aber mir war das egal, ich möchte unbedingt Lehrerin werden.“ Nadeen* (16)

© UNICEF/UN070696/Al-Issa
Syrien - Bildung trotz Krieg: Dank seiner Freunde bleibt Ali am Ball.

Bild 3 von 4 | „Ich hätte nie gedacht, dass ich die Hoffnung auf Bildung verlieren würde. Ohne meine Freunde, die mir ihre Bücher und Unterlagen gegeben haben, hätte ich niemals die Prüfungen angetreten oder gar bestanden.“ Ali* (16)

© UNICEF/UN070680/Al-Issa
Syrien - Bildung trotz Krieg: Salma freut sich über ihre bestandene Prüfung.

Bild 4 von 4 | „Ich bin sehr froh, dass ich die Prüfungen dieses Jahr ablegen konnte. Ich habe trotzdem große Sorge, ob ich meine Abschlussprüfung in ein paar Jahren auch machen kann.“ Salma* (16)

© UNICEF/UN070694/Al-Issa

* Alle Namen geändert

Unser Leid sollte kein Ende nehmen. Mein kleiner Bruder wurde krank, als gerade wieder die Kämpfe in Aleppo begannen. Es gab keine Krankenhäuser und keine Ärzte. Mein kleiner Bruder konnte keine Medikamente bekommen und ist gestorben. Trotz all der Rückschläge, die ich erfahren musste, machte ich weiter.

Als es dann endlich so weit war und die Abiturprüfung vor der Tür stand, mussten wir ins Stadtzentrum von Aleppo fahren. Früher hat das ungefähr eine Stunde mit dem Auto gedauert. Heute brauchten wir zehn. Ich war erschöpft und ich hatte Angst. Aber ich war einen Schritt näher an meinem Traum, Ärztin zu werden

Diesen Bericht schreibe ich in einer Unterkunft, in der ich gemeinsam mit weiteren Schülern wohne. Wir essen zusammen und besuchen dieselben Kurse. Viele von meinen Freunden haben ähnliche Situationen und Widrigkeiten erlebt – wir sind jetzt so etwas wie eine große Familie.

Ich bin traurig, wenn ich daran denke, dass viele Kinder ihre Prüfungen nicht ablegen konnten, so wie ich. Ich hoffe, sie glauben weiter an sich und versuchen, sich ihren Weg zu Bildung stetig zu erkämpfen, trotz aller Schwierigkeiten.

Alles wird vorübergehen, solange du für deine Bildung kämpfst.“

UNICEF hilft auf dem Weg zum Abitur

In 2017 hat UNICEF bereits 10.689 Mädchen und Jungen aus belagerten und schwer erreichbaren Gebieten in Syrien dabei unterstützt, ihre Abschlussprüfungen zum Ende der Mittelstufe (9. Klasse) und der Oberstufe (12. Klasse) anzutreten. Sie erhalten kleine Stipendien, damit sie die Kosten für Transport, Unterkunft und sonstige Ausgaben tragen können.

UNICEF organisiert auch Kurse, in denen die Mädchen und Jungen vor der Prüfung zusammen den Stoff wiederholen können sowie psychosoziale Hilfe, damit sie mit den erlebten Traumata besser zurechtkommen. » Erfahren Sie mehr über die UNICEF-Hilfe in Syrien.

Schule in Syrien – Zahlen und Fakten:

InfoSchule in Syrien
  • Eine von Drei Schulen in Syrien ist geschlossen
  • 150.000 Lehrer können derzeit ihrem Beruf nicht nachgehen
  • 1,75 Millionen Kinder in Syrien besuchen keine Schule
  • In 2016 wurden insgesamt 87 Schulen bombardiert oder angegriffen
  • Insgesamt waren 36.017 Mädchen und Jungen zu ihren Abschlussprüfungen angemeldet.
  • Nur 30 Prozent der angemeldeten Schüler haben ihre Prüfungen auch abgelegt.
Katharina Kesper
Autor*in Katharina Kesper

Katharina Kesper ist Chefin vom Dienst bei UNICEF und bloggt über kraftvolle Geschichten von Kindern, über die Arbeit der Organisation auf der ganzen Welt, über UNICEF-Helfer*innen und besondere Begegnungen.