Madaja, Syrien: „Die Stille war geradezu unheimlich“
Mirna Yacoub ist stellvertretende Leiterin von UNICEF Syrien. Ende September begleitete sie einen Konvoi der Vereinten Nationen, der Hilfsgüter in die belagerte syrische Stadt Madaja lieferte.
Es war das erste Mal seit April, dass die Menschen in der Stadt Hilfe von außen erhielten.
In einem packenden Augenzeugenbericht beschreibt Mirna Yacoub ihre Eindrücke:
"Während wir mit dem Konvoi in Richtung Madaja, nördlich der Hauptstadt, unterwegs waren, hatte ich einen riesigen Knoten in der Magengrube. Wir fuhren kilometerlang auf der Autobahn in Richtung Damaskus. Nicht zu wissen, was uns dort erwarten würde, gepaart mit den Erinnerungen an die erschütternden Bilder von all den Kindern, die sich nichts sehnlicher wünschen, als ein Ende der Belagerung – all das machte es einfach unmöglich, nicht besorgt zu sein. Es ist die Art von Sorge, die bis in die Magengegend sickert und einem Bauchschmerzen bereitet.
Als wir an den Städten kurz vor Madaja vorbeifuhren, war die Stille geradezu unheimlich. Vorbei an verlassenen Restaurants, Geschäften mit geschlossenen und verrosteten Fensterläden, heruntergekommenen Häusern mit verwilderten Gärten – nichts sah mehr bewohnt aus. Eine trostlose Einsamkeit erstreckte sich über das gesamte Gebiet.
Endlich da - und alle kommen herbei
Nachdem wir noch einige Stunden damit verbringen mussten, an Checkpoints zu warten, konnten wir endlich nach Madaja einfahren. Die Sonne ging bereits unter. Als wir die Stadt erreichten, war ich zunächst überrascht von dem, was ich sah. Ich fragte mich, ob ich am richtigen Ort angekommen war – ich erkannte die Stadt nicht wieder.
Langsam folgten wir der Straße durch die Stadt, überall UN-Fahrzeugen mit wehenden Fahnen. Ein Lkw folgte nach dem nächsten, alle beladen mit lebensrettenden Lieferungen. Und dann kamen die Menschen herbei, obwohl es bereits spät am Abend war. Kinder kamen von überall zu den Lastwagen gerannt – ihre Aufregung und Freude konnte man förmlich spüren. Frauen standen auf Balkonen, junge Männer scharten sich an den Straßenecken zusammen und verfolgten misstrauisch, aber erleichtert, was gerade geschah.
Sobald wir ausgestiegen waren, begann das Entladen der Hilfsgüter. Das UNICEF-Team steuerte direkt die provisorisch errichtete Klinik an. Die Frauen und Kinder folgten uns und riefen schon von weitem den Namen der UNICEF- Ärztin, die sie bereits aus der Vergangenheit kannten, „Dr. Rajia! Dr. Rajia!“. All diese Menschen waren so glücklich, sie wieder zu sehen – voller Hoffnung, sie würde Medizin bringen… und vielleicht auch einige Antworten auf ihre drängenden Fragen. Frauen, Männer, Kinder bildeten eine Schlange außerhalb der Klinik, alle bereit, so lange zu warten, wie es dauern würde, sie zu sehen.
Lebenswichtige Nahrung und Nährstoffe fehlen
Ein Patient nach dem anderen wurde von Dr. Rajia untersucht. Sie alle hatten ihre Sorgen, Nöte und Ängste, die sie umtrieben. Eltern, deren Kinder aufgehört hatten zu essen, weil ihr Körper nicht mehr nur von Reis und Bohnen leben konnte. Kinder, die nicht mehr gerade gehen können oder aufgehört haben zu wachsen, weil sie an Rachitis leiden. Das ist eine Wachstumsstörung der Knochen, hervorgerufen durch den Mangel an Vitamin D und Mikronährstoffen.
Was besonders dringend benötigt wird, sind lebenswichtige Vitamine und Nahrung. Eine Mutter zeigte uns ihre Baby-Flasche, gefüllt mit Reiswasser. Der Trinksauger war so abgenutzt, das er bereits mehrmals genäht werden musste. ,Schaut euch an, wie ich mein Kind füttern muss‘, sagte sie traurig.
Fast alle Menschen, mit denen wir gesprochen haben, fragten uns nach Fleisch, Eiern, Milch oder Gemüse. Eine Mutter erklärte uns, dass jedes Mal, wenn sie Bulgur kocht, ihr Kind zu weinen beginnt. Ein Arzt erzählte, dass es immer mehr Fehlgeburten gebe. Zehn Fälle allein in den letzten sechs Monaten seien auf den schlechten Ernährungszustand der Mütter zurückzuführen. Im vergangenen Jahr hat er mehr als 60 Kaiserschnitte durchführen müssen. Die Frauen sind zu schwach, um eine natürliche Geburt durchzustehen.
Hoffnungslosigkeit greift um sich
Wir haben zwar weniger schwer unterernährte Menschen getroffen, als bei unserem letzten Besuch hier. Doch dieses Mal war es nicht die körperliche Auszehrung der Menschen, die uns am meisten traf, sondern die Hoffnungslosigkeit. Ärzte berichteten von zwölf Selbstmordversuchen, darunter acht Frauen.
Die anhaltende Belagerung bringt die Menschen an den Rand der Verzweiflung - einige sehen den Tod als den einzigen Ausweg. Eine Gesundheitshelferin vor Ort erzählt uns die traurigen Hintergründe. Eine der Frauen wusste beispielsweise nicht mehr, wie sie ihre fünf Kinder ernähren sollte. Es war niederschmetternd zu sehen und zu hören, dass die Menschen nicht mehr weiter wissen. Keine Hoffnung mehr haben. Dass die Belagerung sie völlig entkräftet und zerfrisst.
Ärzte und Helfer in Madaja zeigen wahre Widerstandsfähigkeit
Trotz all des Leids: Die Ärzte und Helfer in Madaja demonstrieren wahre Widerstandsfähigkeit. Sie arbeiten unter entsetzlichen Bedingungen und ohne die notwendige medizinische Ausstattung. Einer der Ärzte erzählte uns, dass er für einen Ultraschall inzwischen Haargel verwende, weil das medizinische Gel für eine so grundlegende Untersuchung schon lange fehle. Er zeigte uns auch seinen Operationssaal. Ein Provisorium aus Kunststoff und alten Holzregalen bildete den Operationstisch. Chirurgisches Material lag offen auf Tabletts – um es zu sterilisieren, verwendet er eine Flamme, weil auch der Alkohol schon lange verbraucht ist. Trotz allem macht er weiter, denn: Aufhören ist keine Option.
Mitten in diesem Leid traf ich ein zehnjähriges Mädchen. Sie war unterernährt und schwach, aber bei dem Anblick von Dr. Rajia lächelte sie herzerwärmend, so erfreut darüber, sie wieder zu sehen. Ich fragte sie nach der Schule und was sie später einmal werden will. Sie sah mich mit ihren großen braunen Augen an und sagte lächelnd: "Ich will später mal mit dir arbeiten“. Als wir die Treppe aus dem Keller der Klinik hinaufgingen, nahm sie meine Hand und hielt sie fest. Am Ausgang des Krankenhauses verschwand sie mit ihrer Mutter in der Dunkelheit. Ich bete, dass ich sie eines Tages wieder sehen werde.“
Die Kinder in Syrien brauchen mehr denn je unsere Hilfe!