Auf eine tödliche Dekade für Kinder muss ein Jahrzehnt der Menschlichkeit folgen
Auf dem Weg in die neuen 20er Jahre schauen wir auf eine Dekade zurück, die in vielen Ländern und für viele Familien mit Hoffnung und mit Zuversicht begann – und die nun aus Sicht von UNICEF als „tödliches Jahrzehnt für Kinder“ endet.
Ja, Hoffnung: Vor ziemlich genau zehn Jahren besuchte ich Familien im Südsudan. Ich traf Eltern, die einen jahrzehntelangen Bürgerkrieg überlebt hatten, und Kinder, die nichts anderes als eine Kindheit voller Angst vor den Gräueltaten der Milizen und der nächsten Flucht vor dem nächsten Angriff hinter sich hatten. Mädchen und Jungen, die mit der Furcht aufgewachsen waren, als Soldaten verschleppt oder von Soldaten missbraucht zu werden. Damals, 2010, mit dem Aufbruch in ein neues Jahrzehnt, schauten viele dieser geschundenen Menschen voller Zuversicht auf die bevorstehende Gründung des Südsudan. Sie sehnten sich nach einem friedlichen Leben im jüngsten Staat der Erde. Diese tiefe Hoffnung war für mich damals mit Händen zu greifen, inmitten größter Not.
Was folgte, waren die Staatsgründung – und dann wieder ein erbitterter Konflikt, dessen Gründe aufzuzeigen und Schlachten aufzuzählen hier zu viel Raum erfordern würde. Wieder starben Kinder, litten Kinder, kämpften Kinder. Und rückblickend, nach zehn weiteren Jahren im Dienst von UNICEF, muss ich sagen: Das tödliche Jahrzehnt für Kinder hat früh begonnen.
Während sich für die Kinder in diesem afrikanischen Land der Vorhang für eine neue, rücksichtslose Zeit der Gewalt öffnete, legte sich der beginnende Syrienkonflikt ab 2011 wie ein dunkler Schatten über die Dekade.
Seither ist kaum eine Woche vergangen, in der nicht Schreckensnachrichten unserer UNICEF-Teams aus diesem schon neun Jahre andauernden Krieg per E-Mail bei mir eintrafen. Und dann schreiben und reden wir wieder an gegen die zunehmende Wahrnehmung hierzulande, im Wesentlichen sei der Krieg in Syrien nun ausgefochten. Im Gegenteil: Das letzte Jahr in diesem tödlichen Jahrzehnt für Kinder war eines der gefährlichsten für die Kinder in Syrien. Es begann mit der Flucht vor den zunehmenden Kämpfen im Nordosten. Wieder Kämpfe, Vertreibung – aufgrund der Kämpfe und der Winterkälte starben schon im Januar mindestens 32 Kinder.
Es gibt kein Aufatmen in der umkämpften Region, während schon Millionen irgendwo in Syrien oder den Nachbarländern Zuflucht gesucht haben. Viele von ihnen sind in diesem für sie so grausamen Jahrzehnt zu verbitterten, frustrierten Jugendlichen herangewachsen. Dankbar denke ich an die Mädchen und Jungen zurück, die ich in Aleppo, in Za’atari, Jordanien, oder in der Bekaa-Ebene des Libanon getroffen habe, die dort mit Zuversicht in eine Zeltschule gingen und sich schlicht weigerten, sich als hoffnungslose Kriegsgeneration bezeichnen zu lassen. Tief geprägt haben die jahrelange Angst, die Entbehrung, die Monate und Jahre auf der Flucht sie dennoch.
Während ich auf die Dekade zurückschaue, schreibt uns unser Regionaldirektor in Amman, Ted Chaiban, wie sehr die Kinder in Idlib und dem Nordwesten Syriens in diesen Tagen unter den intensiveren Kämpfen leiden. Wieder höre ich morgens in den Nachrichten von Fassbomben und den heftigen Angriffen und denke: Die schreckliche, tödliche Kriegsmusik der letzten Jahre wird immer wieder neu gespielt.
Mehr als 500 Mädchen und Jungen wurden seit Jahresbeginn verletzt oder getötet, allein im Dezember waren es 65. Tausendmal so viele Kinder laufen in diesen Stunden in Todesangst aus Idlib, dem nördlichen Hama und West-Aleppo davon. Sie reihen sich ein in die Tausenden, die in einfachen Lagern, Baustellen und anderen Notunterkünften Unterschlupf suchen, während es kalt wird und feucht. Es gibt viel zu viele, die nicht einmal das finden und die kommende Nacht frierend draußen zubringen müssen.
Unsere traurige Bilanz führt zu viele Länder auf, in denen Kinder unter Krieg und Gewalt leiden, von A wie Afghanistan bis U wie Ukraine. Jede dieser Gräueltaten, jede dieser Menschenrechtsverletzungen ist für uns kaum zu ertragen. Was diese Dekade für die betroffenen Kinder bedeutet, werden wir erst im nun beginnenden Jahrzehnt erfahren. „Kinder müssen geschützt werden – das ist eine Verpflichtung für alle Kriegsparteien, keine Option“, schreibt mein Kollege Ted Chaiban zu Recht.
Das neue Jahrzehnt muss ein Jahrzehnt der Menschlichkeit gegenüber Kindern werden. Das ist unsere Verpflichtung.