© UNI331931/UNICEFMädchen hält Kinderrechtskonvention in die Kamera
Gut zu wissen

30 Jahre Kinderrechte: Das hat sich in Deutschland getan

Vor 30 Jahren traten die Kinderrechte in Deutschland in Kraft. Was hat sich seitdem für Kinder verbessert und was bleibt noch zu tun? Darüber haben wir mit Prof. Dr. Lothar Krappmann gesprochen.


von Sophie Gatzsche

Herr Krappmann, wenn Sie zurückblicken – was waren die Reaktionen in Deutschland zum Inkrafttreten der Kinderrechtskonvention 1992? Hatten Sie den Eindruck einer Aufbruchsstimmung für die Kinderrechte?

Krappmann: Nein, kaum jemand war auf eine Kinderrechtskonvention vorbereitet. Nur wenige wussten, dass ein solcher völkerrechtlicher Vertrag über die Menschenrechte der Kinder in Arbeit war. Die Mitarbeit in der UN-Arbeitsgruppe, die die Konvention ausarbeiteten, war dem Justizministerium und nicht dem Ministerium für Familie und Jugend zugewiesen worden. Deutsche kindernahe Organisationen ahnten gar nicht, dass auch NGOs in Genf mit am Tisch saßen.

Als die Konvention vom Bundestag ratifiziert werden sollte, erklärte die Regierung, es ginge vor allem um die Entwicklungsländer. In Deutschland sei alles in Ordnung. Immerhin protestierten einige Organisationen gegen die Vorbehalte, die die damalige Regierung einlegte. Aus dieser Initiative entstand die National Coalition, ein Zusammenschluss von mehr und mehr Verbänden, die aus ihrer Arbeit wussten, dass in Deutschland nicht alles in Ordnung ist und wir die Konvention brauchen.

Es hat sich einiges getan. Aber waren es Meilensteine? Jedenfalls waren es bedeutsame Schritte, eher Zwischenschritte, die Fundamente zur Weiterarbeit an der Verwirklichung der Kinderrechte legten.

Prof. Dr. Lothar Krappmann
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Seit 1992 hat sich in der deutschen Politik einiges getan. Was waren aus Ihrer Sicht die zentralen Meilensteine für Kinderrechte in der deutschen Politik seit Inkrafttreten der Kinderrechtskonvention?

Krappmann: Ja, es hat sich durchaus einiges getan. Aber waren es Meilensteine? Jedenfalls waren es bedeutsame Schritte, eher Zwischenschritte, die Fundamente zur Weiterarbeit an der Verwirklichung der Kinderrechte legten. Zu diesen Zwischenschritten zählen etwa die Gründung der erwähnten National Coalition, die seit dem ersten Bericht Deutschlands an den UN-Kinderrechtsausschuss mit ihren Verbänden die Umsetzung der Konvention kritisch-konstruktiv begleitet. Dazu gehören aber auch die Kindschaftsrechtsreform in den 1990er Jahren, der noch einige Nacharbeiten folgten, und das gesetzliche Recht auf gewaltfreie Erziehung, lange umstritten und immer noch nicht voll durchgesetzt.

Zu erwähnen sind auch die erkämpfte Zurücknahme der formellen Vorbehalte gegenüber der Konvention und der Beitritt Deutschlands zum Zusatzprotokoll, das Kindern ermöglicht, sich über Kinderrechtsverletzungen beim UN-Kinderrechtsausschuss zu beschweren.

Wichtig sind die Aktionen von Fridays for Future: Kinder und Jugendliche melden sich öffentlich zu Wort und setzen die Regierenden unter Druck, gestützt vom Bundesverfassungsgericht. Auch die Überarbeitung des SGB VIII im Jahr 2021 war entscheidend. Denn dadurch wurde das Recht auf gewichtiges Gehör und gleichberechtigte Mitwirkung der Kinder gestärkt.

Dies ist sicher eine vorzeigbare Liste, die noch ergänzt werden könnte. Jeder dieser Schritte hatte Auswirkungen auf Kinderleben. Aber mit keinem wurde ein Konfliktfeld abgeschlossen. Nehmen wir zum Beispiel das Gesetz auf gewaltfreie Erziehung. Das Gesetz war überfällig. Das Gewaltverbot hat viele Eltern und andere Erwachsene erreicht. Physische Gewalt geht offenbar zurück, aber psychische, seelische Gewalt, Herabsetzen, Lächerlichmachen, Bloßstellen ist keineswegs beseitigt. Und sexuelle Gewalt scheint immer noch zu wuchern. Auch Mobbinggewalt bleibt eine Pest. Die Anstrengungen müssen sich noch steigern.

Zwei Jungen stehen vor einer Häuserfront.

Die Brüder Ali Abdul-Halim, 17, und Ahmad Abdul-Halim, 15, kamen 2015 als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland.

© UNICEF/UNI200019/Gilbertson VII Photo

Und wo hat die Politik aus Ihrer Sicht Chancen vertan, beziehungsweise wo gab es vielleicht auch Rückschritte?

Krappmann: Ein großes Versäumnis war sicherlich, Kinderrechte nicht ins Grundgesetz aufzunehmen, und zwar in einer Weise, die den Grundprinzipien der UN-Konvention gerecht wird. Das Scheitern war allerdings auch eine Offenbarung, denn in den Debatten über die Aufnahme oder Ablehnung wurde deutlich, dass ein beträchtlicher Rest des Unverständnisses über Konvention und Kinderrechte aus den frühen 1990er Jahren immer noch vorhanden ist. Dass dies sichtbar wurde, ist allerdings auch wieder eine Chance, weiter darüber nachzudenken und gegen Widerstände zu erstreiten, was Kindern zusteht.

Ein weiteres eklatantes Versäumnis in jüngster Zeit war der Ausschluss von Kindern und Jugendlichen, Schülerinnen und Schülern von den Beratungen und Entscheidungen über die Corona-Maßnahmen. Erst vor Kurzem wurde eingesehen, dass Aufwachsen und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen durch unüberlegte und nicht abgestimmte Maßnahmen schwer belastet werden. Was für eine Unvernunft der Politik, die gern beschwört, dass das Land mitverantwortliche Menschen braucht!

Diese Klage ließe sich mit Blick auf das Thema Klima und Artenschutz fortsetzen.

Gab es Rückschritte? Immer wieder gibt es kleinere und größere Entscheidungen von Politik und Verwaltung, deren Auswirkungen auf Kinder nicht bedacht werden. Mal ist es ein bürokratisch ausgebremstes Teilhabepaket für Kinder, mal sind es die fehlenden Fahrradwege, mal sind es die verteuerten Schwimmbäder.

Besonders gravierend ist, dass die Bewältigung einiger fundamentaler Probleme nicht vorankommt: Kinderarmut ist immer noch hoch – die Konvention verlangt, dass der Lebensstandard ausreichen muss, die körperliche, geistige, seelische, sittliche und soziale Entwicklung aller Kinder zu sichern. Damit zusammenhängend: In Deutschland gelingt es nicht, ein Bildungswesen zu organisieren, das den massiven Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg auflöst. Ebenfalls nach wie vor ein großes Problem: Viele zu uns geflüchtete und zugewanderte Kinder kommen nicht in den vollen Genuss der Rechte, die Kindern zustehen. Schwerwiegende Fluchtgründe werden nicht akzeptiert, Familien können nicht zusammenkommen. Oft ist die Unterstützung unzulänglich, um im Bildungswesen erfolgreich zu sein. Das schadet nicht nur den Kindern, sondern der Gesellschaft insgesamt.

Abgeordnete sitzen sich an einem langen Tisch gegenüber.

Bei einem Treffen in Genf im Juni 2013 berichteten deutsche Kinderrechtsorganisationen den Mitgliedern des UN-Kinderrechtsausschusses, wie gut die deutsche Bundesregierung – ihrer Meinung nach – die Kinderrechte umsetzt. Auch Vertreter*innen von UNICEF Deutschland waren dabei.

© UNICEF Deutschland

Welche Rolle haben die Empfehlungen des UN-Kinderrechtsausschuss für die deutsche Politik gespielt, dessen Mitglied Sie ja einige Jahre waren?

Krappmann: Die Diskussionen von UN-Ausschuss und deutschen Regierungsvertretern waren immer problembewusst. Ich bin sicher, dass Politiker, die kinderpolitische Entscheidungen treffen, die Konvention kennen. Dennoch fällt auf, dass sie auch dann, wenn sie kinderrechtsrelevante Beschlüsse fassen, selten die Bestimmungen der Konvention heranziehen. „Gewalt, das war doch schon ewig unser Thema", hieß es beim Gesetz über die gewaltfreie Erziehung. Und das stimmt ja auch. Aber wenn Bemühungen, Kindern zu ihren Rechten zu verhelfen, nicht einem umfassenderen Ziel zugeordnet werden, gehen Antrieb und Dynamik verloren. Würde man sich auf die Konvention beziehen, betriebe man nicht nur Stückwerk, sondern es ginge darum, kontinuierlich an der Verwirklichung einer kindgerechten Sozialwelt und Kultur zu arbeiten.

Es ist sehr wichtig, dass das gesamte Verfahren – Berichte, begleitende Unterlagen, Diskussion in Genf und abschließende Empfehlungen – öffentlich ist. Nicht nur die Regierung hört die Kommentare und Empfehlungen des UN-Ausschusses, sondern auch die deutschen Organisationen, die sich um Kinder und ihr Aufwachsen kümmern. Sie studieren sorgfältig alle Dokumente dieses Monitoring-Verfahrens und halten Kinderrechte auf der Tagesordnung. Sie können sich bei ihren Anstrengungen auf den UN-Ausschuss und seine Kommentare und Empfehlungen berufen. Insgesamt ist die Aufmerksamkeit für dieses Kontrollverfahren gewachsen. Das kommt den Bemühungen zugute, den Kinderrechten Geltung zu verschaffen.

Ein Mädchen zeigt während des Unterrichts auf.

Endlich wieder in die Schule, freut sich Yolanda nach dem ersten Lockdown 2020. Wegen der Corona-Pandemie kam es in den letzten zwei Jahren immer wieder zu Schulschließungen.

© UNICEF/UN0406674/Unruh

Gerade in den vergangenen zwei Jahren und der Politik mit Blick auf Covid-19-Maßnahmen entsteht der Eindruck, dass die Kinderrechte auch 30 Jahre nach Inkrafttreten der Konvention noch nicht im Querschnitt in der deutschen Politik angekommen sind. Wie sehen Sie das?

Krappmann: Ich glaube, dass alle inzwischen von Kinderrechten gehört haben, aber dass viele Akteure die Kinderrechte noch nicht als eine ständig mitzudenkende Dimension ihrer Tätigkeiten verinnerlicht haben. Die Corona-Politik ist dafür ein bitteres Beispiel. Daher muss die endlich im Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtete „Monitoringstelle Kinderrechte“ aufmerksam verfolgen, wo Politik und Verwaltung mit ihren Maßnahmen an Kinderrechten rühren. Auch die vielen Verbände der National Coalition nehmen sicher relevante Vorgänge frühzeitig wahr und können die Verantwortlichen und die Öffentlichkeit darauf hinweisen, dass Kinderrechte beachtet werden müssen.

Im Übrigen sollte es in jedem Ministerium auf Bundes- und Landesebene und in jeder Kommune eine Stelle geben, die bei allen Vorhaben prüft, ob Kinder und Jugendliche unmittelbar oder mittelbar betroffen sind. Es gibt inzwischen solche Stellen, aber nicht überall da, wo sie wichtig wären.

Ein Kind arbeitet auf einem Feld.

Nach aktueller Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und UNICEF leisten 160 Millionen Mädchen und Jungen weltweit Kinderarbeit.

© UNICEF/UN064360/Feyizoglu

Mit der Kinderrechtskonvention hat sich Deutschland auch verpflichtet die Kinderrechte in seinem internationalen Handeln umzusetzen. Als Industrieland hat Deutschland eine besondere Verantwortung, zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe. Ist Deutschland hier ausreichend vorangekommen seit 1992?

Krappmann: Kinderrechtsorganisationen, auch UNICEF, haben seit Langem gefordert, dass die Kinderrechte auch in den internationalen Beziehungen eingehalten werden müssen. Besonders lang hat es gedauert, bis für das wirtschaftliche Handeln verbindliche Abmachungen getroffen werden konnte. Erst 2021 wurde schließlich das Lieferkettengesetz verabschiedet. Viele Verbände, die sich für Kinderrechte einsetzen, stellen allerdings fest, dass es nicht das Gesetz geworden ist, das eigentlich erforderlich wäre. Auch hier ist Weiterarbeit nötig. Gut ist, dass Gewerkschaften und NGOs für betroffene Kinder Rechte bei deutschen Gerichten einklagen können. Ich bin sicher, dass hiesige Organisationen darauf achten werden, dass die Unternehmen ihre Sorgfaltspflichten einhalten. Gegebenenfalls werden sie Kindern beistehen, ihre Rechte gegen Unternehmen zu erstreiten.

Der UN-Kinderrechtsausschuss hat sich sehr dafür eingesetzt, dass bei humanitären Hilfen – bei Krieg, bei staatlichem Versagen oder Naturkatastrophen – nicht nur schnell für die physische Existenzsicherung der betroffenen Menschen gesorgt wird, sondern die Hilfen auch einschließen, den Kindern so bald wie möglich wieder zu Spiel und Lernen zu verhelfen. Zwei Jahre Corona haben gezeigt, wie sehr Kinder leiden, wenn gewohntes Kinder- und Jugendleben nicht schnell zurückkehren.

Greta Thunberg spricht in ein Mikrofon.

2019 reichten Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg und 15 weitere Kinder beim UN-Kinderrechtsausschuss in Genf Beschwerde ein, weil die Staaten zu wenig gegen den Klimawandel tun

© UNICEF/UNI207483/Chalasani

Der UN-Kinderrechtsausschuss wurden in den letzten Jahren durch das dritte Fakultativprotokoll gestärkt, das unter anderem eine Individualbeschwerde ermöglicht. Auch Deutschland hat das Fakultativprotokoll 2013 ratifiziert. Mit der Beschwerde zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Kinder gab es zuletzt eine auch medial sehr sichtbare Beschwerde. Welches Potential sehen Sie hier? Welche Rolle kann der Ausschuss mit Blick auf die Umsetzung der Kinderrechte durch die deutsche Politik dadurch spielen?

Krappmann: Die von der UN eröffnete Möglichkeit, eine Kinderrechtsverletzung dem UN-Ausschuss vorzutragen, stellt noch einmal klar, dass Kinderrechte denselben Rang haben wie die Menschenrechte, die in anderen Konventionen verbindlich gemacht wurden. Zu diesen Konventionen gehörten schon längst Beschwerdeverfahren, nun endlich auch zur Kinderrechtskonvention. Dieses Zusatzprotokoll über Beschwerdemöglichkeit der Kinder setzt zugleich ein Signal für das deutsche Rechtswesen: Kinderrechte sind Rechte, die nach den Standards der Jurisprudenz behandelt werden müssen. Da es auch unter den Juristen Zurückhaltung gegenüber der Konvention gab und wohl auch noch gibt, war überfällig zu verhindern, dass Kinderrechte durch ein nationales Rechtssystem geschmälert werden können.

Die spektakuläre Beschwerde, dass Staaten nicht genug tun, um Verletzungen der Kinderrechte durch den Klimawandel zu verhindern, war gut begründet. Leider steht in der Kinderrechtskonvention, ausgehandelt in den 1980er Jahren, noch nichts zu diesem drängenden Problem. Der UN-Ausschuss hat in seiner „historischen" Antwort an die beschwerdeführenden Kinder dennoch aus der Konvention abgeleitet, dass Staaten für die Beeinträchtigung von Kinderrechten durch unzulänglichen Klimaschutz haftbar gemacht werden können.

Zunehmend fragt der UN-Ausschuss in den Gesprächen mit Regierungen, inwieweit der Klimawandel die Verwirklichung von Kinderrechten behindert. Der UN-Ausschuss will das Thema fester in seiner Arbeit verankern. Er sammelt zurzeit weltweit zusammen mit UN-Organisationen und NGOs Material, um einen Kommentar (General Comment) zum Problem von Kinderrechten und Umwelt auszuarbeiten. Das soll ein wichtiger Impuls werden.

Aber noch einmal zurück zu den Empfehlungen des UN-Ausschusses: Es sind Empfehlungen und keine Anordnungen. Immer wieder heißt es, es sei ein schwaches Instrument für die Verwirklichung der Kinderrechte. Wir alle nehmen wahr, wie langsam es oft vorangeht. Aber kann man erwarten, dass eine neue Selbstverständlichkeiten erfordernde Umorientierung der Erwachsenen-Kind-Beziehung von einem Tag auf den anderen wirksam werden kann?

Dieses zu wandelnde Verhältnis muss sich gegen überkommene Vorstellungen, Gewohnheiten und Routinen durchsetzen und mit Leben gefüllt werden. Gesetze haben ein Gerüst gebaut; Gerichte greifen bei Verstößen ein, wenn sie ihnen vorgetragen werden. Vor allem die engagierte Zivilgesellschaft muss sich der Aufgabe widmen, die Gesellschaft zu überzeugen, dass durch anerkannte und praktizierte Kinderrechte alle Generationen gewinnen. Da ist noch viel zu leisten.

Prof. Dr. Lothar Krappmann erforschte die soziale Entwicklung der Kinder als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, lehrte an der Freien Universität Berlin und war von 2003 bis 2011 Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes. Er setzt sich weiterhin für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention ein.

Info

Wie steht es 30 Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland um die Umsetzung der Kinderrechte? Antworten darauf geben namhafte Expert*innen in unserer Publikation „30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland - Eine Bilanz“, die anlässlich des Jahrestags erschienen ist.

Sophie Gatzsche
Autor*in Sophie Gatzsche

Sophie Gatzsche schreibt zu kinderrechtlichen Themen in der politischen Arbeit von UNICEF.