Gut zu wissen

5 Fragen zur Initiative für geflüchtete Kinder in Deutschland


von Christine Kahmann Autorin

Im Frühjahr 2016 rief UNICEF International gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die „Initiative zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ ins Leben. Detlef Palm, der das Programm bis Juni 2018 koordinierte, berichtet im Interview über die Herausforderungen für geflüchtete und migrierte Kinder in Deutschland und die Erfolge der Arbeit im Rahmen der Initiative.

Detlef Palm
© Privat

1. Wie geht es den Kindern und Jugendlichen, die in Flüchtlingsunterkünften leben?

"Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort, die für alle Kinder gilt. Jedoch sehen wir in unserer Arbeit eine Reihe von wiederkehrenden Herausforderungen, die das Wohlergehen vieler geflüchteter und migrierter Mädchen und Jungen betreffen.

Als Eltern möchten wir das Beste für unsere Kinder: Wir möchten, dass sie ein sicheres Zuhause haben, zur Schule und in die Kita gehen, Freunde und Anschluss finden, ihren Geburtstag feiern können. Für viele Eltern, die mit ihren Kindern in den Unterkünften leben, ist dies jedoch ohne weiteres nicht möglich.

Trotz zahlreicher Bemühungen sind viele Unterkünfte nicht kindgerecht: Es handelt sich oftmals um leerstehende Kasernen oder Großunterkünfte, in denen Kinder mit vielen fremden Menschen auf engstem Raum zusammenleben, in denen man die Türen nicht abschließen kann, in denen es kaum Privatsphäre und Rückzugsorte gibt.

Häufig sind die Unterkünfte von Stacheldraht umgeben, Familien müssen sich beim Verlassen und Betreten der Unterkunft ausweisen. Die hygienischen Bedingungen sind zum Teil problematisch. Und Kinder sind weitgehend schutzlos mit Stress und Gewalt konfrontiert.

All dies hat Auswirkungen auf ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen.

Besonders schwierig ist die Situation für Familien mit sogenannter geringer Bleibeperspektive. Sie leben in ständiger Sorge vor der Ablehnung ihres Asylantrags oder der Abschiebung - die ständige Unsicherheit und Frustration ist sehr belastend für die Kinder."

2. Worum geht es bei der „Initiative zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“?

"Ziel ist es, die Situation in den Flüchtlingsunterkünften für Kinder, Jugendliche und andere schutzbedürftige Menschen zu verbessern und ihnen ein möglichst normales und kindgerechtes Familienleben in einem sicheren Umfeld zu ermöglichen.

Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und unseren Partnern haben wir Mindeststandards für Flüchtlingseinrichtungen entwickelt. Diese Standards sollen den Einrichtungen helfen, die Ursachen von Stress- und Gewaltsituationen – wie zum Beispiel häuslicher Gewalt oder Vernachlässigung – zu identifizieren und abzubauen.

Derzeit unterstützt die 'Initiative zum Schutz von Geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften' rund 100 Einrichtungen dabei, auf Basis dieser Standards und anhand einer Risikoanalyse, Schutzkonzepte zu erstellen und umzusetzen, damit die Rechte der Kinder jederzeit gewahrt werden. Wir schulen Mitarbeiter und fördern die Einrichtung von kinderfreundlichen Orten, wo die Kinder spielen und wieder für einen Moment Kind sein können.

Für die Eltern werden u.a. Beschwerdewege eingerichtet, damit sie frühzeitig Hilfe suchen und in Anspruch nehmen können. Des Weiteren schulen wir die Mitarbeitenden der Einrichtungen zu Fragen des Kinderschutzes und fördern ihre Vernetzung. Wir sind der Meinung, dass alle Einrichtungen, in denen geflüchtete und migrierte Kinder leben, verbindlich solche Schutzkonzepte haben sollten."

Die Schwestern Omar sitzen in ihrem Zimmer in Karlshorst

Jedes einzelne Kind hat das Recht auf Schutz, auf eine kindgerechte Umgebung, auf Bildung und gute Gesundheitsversorgung.

© UNICEF/UN025298/Gilbertson VII Photo

3. Geflüchtete Kinder und ihre Eltern leben ja nur vorrübergehend in Flüchtlingsunterkünften. Braucht es da überhaupt Unterstützung?

"In Realität leben sehr viele Familien leider bis heute über viele Monate oder sogar Jahre in den Einrichtungen. Auch Familien, deren Asylantrag schon bewilligt wurde, halten sich dort häufig über einen langen Zeitraum auf, da sie keine Wohnung finden.

Für Kinder sind sechs Monate, ein Jahr oder zwei Jahre eine sehr lange Zeit. In dieser einmaligen Lebensphase, die für ihre Entwicklung so entscheidend ist, werden die Weichen gestellt für das weitere Leben.

Zum Beispiel braucht ein fünfjähriges Kind ein stabiles und förderndes Umfeld: Zugang zur Schule, Freundschaften mit Gleichaltrigen, eine Chance, sich zu entfalten und Freude zu erleben. Wenn dem Kind diese Erfahrung viele Monate oder Jahre vorenthalten wird, kann sich das sehr negativ auf seine weitere Entwicklung auswirken. Für die Kinder zählt jede Woche, die sie verlieren.

Für uns gilt: Grundsätzlich sollten Kinder so kurz in Not- und Gemeinschaftsunterkünften bleiben wie möglich. Außerdem sollten sie rasch zur Schule und in den Kindergarten gehen können."

Drei geflüchtete Kinder spielen auf einem Spielplatz

Karam (5) und die Zwillinge Jannat und Amr (8) aus Homs in Syrien spielen auf einem Spielplatz in der Nähe ihrer Unterkunft in Berlin. In der Schule haben sie Freunde gefunden und lernen fleißig.

© UNICEF/UN0126196/Gilbertson VII Photo

4. Was konnte die Initiative bislang bewirken?

Seit Beginn der Initiative haben wir schon vieles auf den Weg gebracht. Die Entwicklung der eben erwähnten Standards und Leitfäden ist dabei ein ganz entscheidender Schritt.

Um die Umsetzung der Mindeststandards zu begleiten, unterstützt die Initiative nicht nur rund 100 Einrichtungen in ganz Deutschland, sondern organisiert auch regelmäßige Fachkonferenzen für die Verantwortlichen in den Ländern und Kommunen sowie die Wohlfahrtsverbände, Träger von Flüchtlingsunterkünften und Organisationen der Zivilgesellschaft. Ziel ist es, Erfahrungen auszutauschen, mit Teilnehmenden zu diskutieren und anhand konkreter Umsetzungsbeispiele aufzuzeigen, wie eine Implementierung vor Ort gelingen kann.

Durch unsere regelmäßigen Besuche sehen wir ermutigende Entwicklungen. Da, wo ein Schutzkonzept erfolgreich umgesetzt ist, gehen Kinder häufiger in die Kita, gibt es mehr Rückzugsmöglichkeiten und Spielmöglichkeiten und die Kinder und ihre Eltern haben mehr Anlaufstellen für ihre Beschwerden und Verbesserungsvorschläge.

Inwiefern Kinder und Jugendliche in den Einrichtungen tatsächlich besser geschützt sind und sich ihr Wohlergehen verbessert hat, kann man jedoch nur nach langfristiger Beobachtung bewerten.

Das Messen der Erfolge ist nicht immer einfach, denn es bedarf datengestützter Monitoring-Arbeit, um Fortschritte zu erfassen. Deshalb testen wir in den nächsten Monaten ein neu erarbeitetes System, um die Erfassung und Evaluierung von Daten zu verbessern.

Bis Ende des Jahres sollen alle 100 Unterkünfte die Konzepte zum Schutz der Kinder und Jugendlichen umsetzen.

5. Detlef, was sind Deine Wünsche für die nach Deutschland geflüchteten Kinder und Jugendlichen?

Ich wünsche mir, dass Kinder immer die Chancen haben, Kinder zu sein und sich voll entfalten können. Alle Eltern vereint der Wunsch, das Beste für ihre Kinder zu ermöglichen. Das liegt jedem Vater und jeder Mutter am Herzen. Und das möchten wir auch für geflüchtete und migrierte Kinder garantieren – ganz gleich woher sie kommen und wo sie sich aufhalten.

Jedes Kind hat die gleichen Rechte: Dazu gehört ein geregelter Schulzugang und ein sicheres Umfeld. Kinder haben die unglaubliche Kraft, auch unter den schwierigsten Bedingungen wieder Fuß zu fassen. Wenn Kinder voll ins Erziehungssystem eingebunden sind, lernen sie schnell die deutsche Sprache, finden rasch Freunde und können wieder nach vorne schauen. Dabei sind sie auch eine wichtige Brücke für die Integration der ganzen Familie. Kindern eine Kindheit zu ermöglichen, dafür machen wir uns stark.

Mitarbeiterfoto: Christine Kahmann, UNICEF Deutschland
Autor*in Christine Kahmann

Christine Kahmann berichtet aus der Pressestelle über aktuelle UNICEF-Themen.