Meinung

Die lange Liste des Leids


von Autor Christian Schneider

Das Kinderhilfswerk UNICEF stellt heute seinen Finanzbedarf für die weltweite Nothilfe in 2019 vor. Es braucht viel Geld, um 41 Millionen Kindern in Kriegs- und Krisengebieten helfen zu können. Die lange Liste des Leids macht klar: Die internationale humanitäre Hilfe braucht nachhaltigere Finanzierungsmöglichkeiten.

Syrien: Mohammed lebt im Batbu Camp im westlichen Aleppo
© UNICEF/UN0266993/Watad

Wenn das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen heute in Genf und New York seinen Finanzbedarf für die weltweite Nothilfe in diesem Jahr präsentiert, dann wird sich mancher, der die Lage in Ländern wie Somalia, der Zentralafrikanischen Republik oder Bangladesch nicht täglich verfolgt, die Augen reiben. Wie kann UNICEF schon zu Beginn eines Jahres wissen, wie viel Geld für Einsätze in fast 60 Ländern der Erde nötig sein wird? Es geht doch um Nothilfe. Und wie kommt es zu diesem zunächst unglaublich klingenden Bedarf von 3,9 Milliarden US-Dollar, dem höchsten in der Geschichte der Organisation?

Jedes vierte Kind leidet unter bewaffneten Konflikten oder Naturkatastrophen

Dabei zeigt das zuletzt stetig gestiegene Budget in unserem jährlichen Aufruf „Humanitarian Action for Children“ vor allem eines: Schon ohne weitere Erdbeben, Überschwemmungen oder Wirbelstürme, ohne neue Bürgerkriege oder Massenvertreibungen wachsen Millionen Kinder in zahlreichen Ländern in verzweifelter Not auf und können ohne humanitäre Hilfe von außen kaum überleben.

Jedes vierte Kind lebt heute in einem von bewaffneten Konflikten oder Naturkatastrophen geplagten Land. Die Liste jener Krisen, die so komplex, so umfassend, so groß oder so verfahren sind, dass sie immer weiter andauern und die Not der Zivilbevölkerung immer mehr verschärfen, ist lang. In der Demokratischen Republik Kongo, in Nigeria, im Südsudan, in Syrien oder im Jemen müssen Kinder und ihre Familien seit Jahren mit immer neuen Wellen der Gewalt, mit Angst, Flucht und ohne die Aussicht auf einen normalen Alltag zurechtkommen.

UNICEF-Botschafter Orlando Bloom hat Kinder in Krisengebieten besucht. Mit Blick auf ihre Situation fragt er: "Wie ist das vertretbar?"

Vor 30 Jahren trat die UN-Konvention über die Rechte des Kindes in Kraft, die auch den Schutz der Kinder in Kriegsgebieten verbessern sollte. Doch heute sind mehr Länder in interne oder grenzübergreifende Konflikte verwickelt als jemals zuvor in diesen drei Jahrzehnten. Die vielen dort lebenden Kinder haben kaum eine Kindheit, die diesen Namen verdient. Sie haben keine Chancen auf einen sicheren Platz zum Spielen, einen normalen Schulalltag oder auch nur ein sicheres Zuhause.

Ihr physisches Überleben und ihre Entwicklung hängen davon ab, ob humanitäre Helfer wie unsere UNICEF-Teams Zugang zu ihnen haben – und davon, ob es ausreichend Geld für diese meist teure, weil auf Flugzeuge, Hubschrauber und von Sicherheitspersonal begleitete Lkw-Konvois angewiesene Hilfe gibt.

Südsudan: Frauen entladen ein Flugzeug mit Hilfsgütern
© UNICEF/UN0120035/Makundi

Ob ihre seelischen Verletzungen jemals heilen können, wissen wir nicht, dies hängt von vielen Faktoren im Leben der Kinder ab. UNICEF warnt allerdings davor, dass selbst grundlegende psychosoziale Angebote wie geschützte Spielorte, einfache Therapieformen und Notschulen chronisch unterfinanziert sind. Rekrutierung für den Kampf, sexuelle Gewalt, Entführung oder Folter und die jahrelange Allgegenwart von Gewalt in der Umgebung können Kinder unter gefährlichen „toxischen Stress“ setzen. Neben den unmittelbaren Gefahren bedroht diese Belastung auch dauerhaft ihre Fähigkeit, sich zu entwickeln und gesund aufzuwachsen.

Einer der denkbar schlimmsten Orte für Kinder: Die Demokratische Republik Kongo

In der Demokratischen Republik Kongo, die ich vor wenigen Wochen besucht habe, gefährden gleich mehrere Krisen das Leben der Kinder: Kämpfe im Osten des Landes, die Ebola-Epidemie und die Nachwirkungen des Konflikts in der Region Kasai. Kasai war schon vor dem Ausbruch der Gewalt 2016 eine der besonders armen Regionen des Landes. Nach 18 Monaten brutaler Kämpfe und Vertreibungen ist es einer der denkbar schlimmsten Orte für Kinder. Die Beispiele der Gewalt, von denen mir Mütter, Lehrer und humanitäre Helfer berichteten, sind zu grausam, um hier beschrieben zu werden.

Was Kindern angetan wurde, was Kinder miterleben mussten (und oft nicht überlebt haben), geht mir bis heute nah. Doch mit dem Abebben der Kämpfe ist das Leid der Kinder eben nicht vorbei. 400.000 Jungen und Mädchen sind weiter so schwer mangelernährt, dass sie bei uns längst auf einer Intensivstation wären. Sie brauchen dringend therapeutische Nahrung, um zu überleben. Kinder, die inzwischen Notschulen besuchen, rennen noch immer um ihr Leben, sobald sich ein Militärlastwagen nähert.

Es gibt in Kasai Tausende Schicksale wie das der jungen Mutter Rose, die ich in der Nähe der Stadt Kananga traf: Etwa 200 Kilometer floh sie mit ihren Kindern durch den Busch, nachdem ihr Mann vor ihren Augen getötet wurde. Drei Kinder überlebten die Flucht nicht. Als ich sie traf, saß sie erschöpft in einer Gesundheitsstation, wo Helfer ihre Tochter Christine wiegten, den Umfang des Oberarms maßen, die Ödeme an den Beinen untersuchten. Die Dreijährige war akut mangelernährt. Von UNICEF bereitgestellte angereicherte Erdnusspaste wird Rose helfen, ihre Tochter wieder aufzupäppeln.

Kongo: Ein ehemaliger Kindersoldat hinter einem Vorhang
© UNICEF/UN0271319/Tremeau

Es ist deprimierend, dass die lebensrettende Hilfe wie diese in der Demokratischen Republik Kongo im vergangenen Jahr nur zur Hälfte finanziert war. Unseren Kinderschutzprogrammen im Land fehlten sogar zwei Drittel der benötigten Summe. Geld, das gebraucht wurde, um Kindern, die aus den Milizen befreit wurden, Mädchen, die extreme Gewalt erdulden mussten, Kleinkinder, die Mord und Verstümmelungen mit ansahen, über ihre furchtbaren Erfahrungen hinweg zu helfen.

Das Warten auf den Superlativ ist entwürdigend

Mit der Vorstellung des Nothilfebedarfs für das neue Jahr beginnt mit dem heutigen Tag erneut der Wettlauf gegen die Zeit. Es sind 41 Millionen Jungen und Mädchen an den gefährlichsten, härtesten, entbehrungsreichsten Orten der Welt, die wir in den kommenden Monaten erreichen wollen – nein: erreichen müssen.

Die internationale Gemeinschaft muss ihre Verantwortung für diese Kinder ernster nehmen als bislang. Wir brauchen Mechanismen, die eine Finanzierung der humanitären Hilfe rechtzeitig und verlässlich sicherstellen, ohne dass UNICEF und andere Organisationen mit immer neuen Appellen der Not und dem Sterben der Kinder hinterherlaufen. Für die Menschen in den Notstandsgebieten, die für die Krisen in ihrer Heimat nichts können, ist das Warten der Welt auf den Superlativ der in den Medien ausgerufenen „Katastrophe“, auf das Ausrufen der Hungersnot, auf das massenhafte Sterben von Kindern, entwürdigend.

Wo heute schon absehbar ist, dass chronische Krisen über das Jahr hinaus Kinder und ihre Familien weiter in die extreme Armut oder bis in den Hungertod treiben, müssen die internationalen Geber möglichst mehrjährige, sichere Budgets bereitstellen. Und wir müssen versuchen, die Widerstandskraft der Familien, die Ernährungssituation der Kinder, die gesundheitliche Versorgung dort schon frühzeitig zu stärken, wo sich neue Konflikte abzeichnen oder immer wieder Naturkatastrophen drohen.

Denn unser Bericht zeigt auch: Hilfe für diese Kinder können UNICEF und andere Organisationen auch unter extremen Bedingungen eines Konflikts und nach Katastrophen nachprüfbar und erfolgreich leisten. Erfolg ist, wenn dann Kinder wie Christine in Kasai dank therapeutischer Nahrung von der Schwelle des Todes zurück ins Leben finden. Zynisch ist, wenn Christine das Kind ist, das stirbt – weil die Hilfe in der Demokratischen Republik Kongo wieder nur zur Hälfte finanziert wird.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.