Menschen für UNICEF

Zwei Blätter und eine Knospe: So hilft UNICEF Kindern auf Teeplantagen in Indien


von Bettina Kaltenhäuser

Schon gewusst? Bei der Teeernte werden für die beste Qualität nur zwei Blätter und die Knospe gepflückt. Für UNICEF-Mitarbeiterin Bettina Kaltenhäuser steht dieses Bild auch für die Art der Zusammenarbeit zwischen UNICEF und der indischen Gesellschaft. Hier berichtet sie von ihrer Reise nach Indien.

Im November 2018 habe ich fünf Wochen im UNICEF-Länderbüro in Indien verbracht. Dort hatte ich die großartige Möglichkeit, UNICEFs Arbeit mit den Familien von Teepflückerinnen in der Region Assam kennenzulernen. Besonders beeindruckt hat mich die facettenreiche Rolle der UNICEF-Kolleginnen vor Ort: Auf der einen Seite sind sie über lokale Partner ganz nah dran an den einzelnen Teearbeiterinnen und ihren Familien. Gleichzeitig haben sie immer fest im Blick, die Regierung bei systemischen Veränderungen zu unterstützen. Genau nach dem UNICEF-Motto: für jedes Kind.

Indien: UNICEF-Mitarbeiterin Bettina Kaltenhäuser auf einer Teeplantage.

"Hier habe ich zum ersten Mal Teesträucher gesehen": UNICEF-Mitarbeiterin Bettina Kaltenhäuser auf einer Teeplantage in Indien.

© UNICEF Indien

Einfach hinsetzen und eine Tasse Tee trinken – das ist für meine UNICEF-Kolleginnen und –Kollegen in Indien definitiv keine Option, wenn es um die Arbeits- und Lebensbedingungen in Assam´s Teeplantagen geht.

Indien ist der zweitgrößte Teeproduzent der Welt und produziert fast 24 Prozent des globalen Teebedarfs. Insgesamt sind fast 1,3 Millionen Arbeitnehmer als Festangestellte und Leiharbeiter in der Teeindustrie beschäftigt, davon etwa 54 Prozent Frauen. In Assam gibt es etwa 700.000 Teearbeiter – viele von ihnen leben unter entsetzlichen Bedingungen.

Während meiner Exkursion nach Assam hatte ich die Möglichkeit, die Nahortoli Teeplantage in Dibrugarh zu besuchen und mehr über die eindrucksvolle Arbeit von UNICEF zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Teearbeitern zu erfahren. Hier möchte ich davon erzählen.

Indien: Teepflückerinnen bei ihrer täglichen Arbeit auf der Plantage.

Bild 1 von 3 | Teepflückerinnen auf der Bokel Teeplantage in Dibrugarh in der Region Assam, Indien

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Indien: Eine Teepflückerin auf der Bokel Teeplantage.

Bild 2 von 3 | In Assam gibt es etwa 700.000 Teearbeiterinnen und Teearbeiter – viele von ihnen leben unter entsetzlichen Bedingungen.

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Indien: Nahaufnahme einer Teepflanze auf der Plantage.

Bild 3 von 3 | Schon gewusst? Bei der Teeernte werden für die beste Qualität nur zwei Blätter und die Knospe gepflückt.

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Warum UNICEF mit der Indian Tea Association zusammenarbeitet

Nachdem die BBC im Jahr 2015 in einem Beitrag mit dem Titel "The bitter story behind the UK's national drink" die katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen auf indischen Teeplantagen aufdeckte, wurde das Thema von den Medien aufgegriffen und viele Marken reagierten darauf. So nahm zum Beispiel die Luxushandelskette Harrods bestimmte Teemarken aus dem Sortiment.

Bereits zehn Jahre zuvor hatte UNICEF Indien begonnen, mit Teeplantagen in Assam zusammenzuarbeiten. Die Indian Tea Association hatte sich an UNICEF gewandt, nachdem es aufgrund mangelhafter hygienischer Bedingungen in mehreren Teeplantagen zu einem schweren Cholera-Ausbruch gekommen war. UNICEF begann mit der lokalen Teegesellschaft zusammenzuarbeiten, um die Lebensbedingungen für Teepflückerinnen und ihre Familien zu verbessern. Darauf aufbauend richtete UNICEF später ein strukturiertes Projekt mit der Ethical Tea Partnership und verschiedenen Industrieverbänden ein. Diese Partnerschaft gilt inzwischen als Vorzeigeprojekt zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in der Tee-Lieferkette.

In der ersten Projektphase von 2014 bis 2017 konzentrierten sich UNICEF und die Projektpartner vor allem auf Themen des Kinderschutzes, wie der Prävention von Kinderhandel und Kinderehe. Noch vor fünf Jahren gab es sehr viele Fälle von Kinderhandel. Mädchen und Jungen wurden zum Arbeiten an andere Teeplantagen verkauft. Zudem wurden bereits Kinder im Alter von zwölf oder 13 Jahren verheiratet.

Wie hat UNICEF in dieses komplexe und herausfordernde Umfeld eingegriffen?

Um die UNICEF-Hilfe zu verstehen, ist es wichtig, den sehr speziellen Aufbau von Teeplantagen nachzuvollziehen. Historisch gesehen sind sie wie kleine Königreiche auf eine sehr hierarchische Art und Weise organisiert, wobei der Plantagenmanager zugleich als Premierminister, Bürgermeister und Priester agiert.

Nach dem indischen "Tea Plantation Labour Act" haben Plantagenmanager weitreichende soziale Verpflichtungen, die in anderen Ländern meist von der Regierung zu erfüllen sind. Dies ist in den indischen Teeanbaugebieten jedoch nicht der Fall: So ist der Plantagenleiter für die Bereitstellung von freiem Wohnraum, kostenlosem Wasser, Lebensmittelrationen, Bildung, medizinischem Dienst und sanitären Einrichtungen verantwortlich. Auch die frühkindliche Betreuung soll gewährleistet sein. Aber es gab – und gibt es in vielen Fällen immer noch – nur unzureichende externe Kontrollsysteme um festzustellen, ob die Manager der Teeplantagen diese gesetzlichen Verpflichtungen tatsächlich einhalten.

Indien: Schild der Nahortoli Teeplantage "Nahortoli T.E. since 1919"

Bild 1 von 3 | Die Nahortoli Teeplantage setzt viele Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter um.

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Bild 2 von 3 | Zur Plantage gehört zum Beispiel eine eigene Schule.

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Indien: Eine Frau zeigt ihre Hütte, in der sie mit ihrer Familie lebt.

Bild 3 von 3 | Teearbeiter und ihre Familien können auf dem Gelände der Nahortoli Teeplantage wohnen.

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Weisheit aus dem Inneren oder "Die Macht der Gemeinschaft"

Neben dem Plantagenmanager spielen Gemeinschaftskomitees eine zentrale Rolle auf den Teeplantagen. Sie haben Einfluss auf das Leben der Teearbeiter und ihrer Familien. Das zeigen eindrucksvoll zwei Beispiele von der Nahortoli Teeplantage: Im ersten Fall verhinderten die Mitglieder eines Mädchenclubs erfolgreich eine Kinderehe. Als die Gruppe herausfand, dass ein minderjähriges Mädchen verheiratet werden sollte – die Heirat unter 18 Jahren ist nach indischem Recht verboten – besuchten sie die Familie des Mädchens und überzeugten seine Eltern, es nicht zu verheiraten. Nun geht das Mädchen zur Schule.

In einem anderen Fall wollte ein Mädchen die Schule abbrechen, um stattdessen zur Arbeit zu gehen. Als die jugendlichen Mädchen der Gruppe davon erfuhren, besuchten sie das Mädchen zu Hause und konnten es davon überzeugen, weiter zum Unterricht zu gehen. Darüber hinaus schafften sie es sogar, dafür die Unterstützung der Eltern zu gewinnen.

Diese Ereignisse zeigen warum es so wichtig ist, systematisch Veränderungen in einer Gemeinschaft zu bewirken. Sobald die Menschen wichtige Informationen über ihre Rechte erhalten und sobald die notwendigen Strukturen und Prozesse aufgebaut sind, ist der Wandel nicht mehr aufzuhalten – und die Impulse für den Wandel kommen dann nicht mehr von außen, sondern können aus dem Herzen der Gemeinschaft wachsen.

Indien: Bettina Kaltenhäuser in der Runde des Nahortoli Women's und Girl's Club.

Bild 1 von 3 | Die Mitglieder des Nahortoli Women's und Girl's Club hießen UNICEF-Mitarbeiterin Bettina Kaltenhäuser herzlich willkommen.

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Indien: Vier Mädchen des Nahortoli Girl's Club

Bild 2 von 3 | Engagierte Mitglieder der Gruppe stellten ihre Arbeit vor.

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Indien: Gruppenbild mit den Mitgliedern des Women's and Girl's Club

Bild 3 von 3 | Am Ende des Besuchs gab es ein Gruppenbild mit den Mitgliedern des Clubs.

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UNICEF verfügt über langjährige Erfahrungen mit kommunikativer Entwicklungsarbeit. Ziel ist dabei stets, Verhaltensänderungen in den Gemeinden von Grund auf anzuregen. Diese Art der Zusammenarbeit war ein ausgezeichneter Ausgangspunkt, um die Herausforderungen des Gesundheits- und Kinderschutzes auf den Teeplantagen in Assam zu adressieren.

Ein Beispiel, wie es dagegen nicht laufen sollte, ist der folgende Fall: Nach dem BBC-Bericht, der die hygienischen Bedingungen auf den Teeplantagen heftig kritisierte, bauten Manager auf einigen Teeplantagen in Assam die geforderten Toiletten. Die Mitglieder der jeweiligen Gemeinden nutzten die neuen Toiletten jedoch nicht, da sie weder nach ihrer Meinung bezüglich Aufbauort und -art gefragt worden, noch in den Planungsprozess mit einbezogen worden waren. Sie sahen keinen Grund, die neuen sanitären Anlagen zu nutzen. Während das Management den Punkt "Toiletten" auf seiner Liste abhaken konnte, war dies keine brauchbare Lösung für die Arbeiter und deren Familien.

UNICEF wählte einen anderen Weg und richtete verschiedene Gemeindegruppen ein, die sich untereinander austauschen konnten. Zudem wurden lokale Experten zu Themen wie Hygiene und Kinderschutz zur Unterstützung eingeladen. Auf vielen Plantagen wurden außerdem Mädchenclubs gegründet, die ihren Mitgliedern die Möglichkeit gaben, über für sie wichtige Themen zu diskutieren, die dann wiederum in Diskussionen innerhalb der Gemeinde einflossen.

Worum geht es im aktuellen Projekt und was sind die nächsten Schritte?

In der zweiten Phase des Projekts mit dem Ethical Tea Partnership werden weitere wichtige Bestandteile hinzugefügt, wie zum Beispiel Maßnahmen für eine verbesserte Bildung und Ernährung. Derzeit sind rund 200 Plantagen an dem Projekt beteiligt. Außerdem wurden bereits 80 Jungenclubs gegründet. Dort finden die Jugendlichen Raum, um über Themen wie Gesundheit, Ernährung und Geschlechtergerechtigkeit zu sprechen und Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die ihnen helfen, ihr Leben selbstständig zu gestalten. Gleichzeitig werden die Erfahrungen der ersten erfolgreichen Projektphase in Zusammenarbeit mit dem Nachhaltigkeitsbeauftragten der Indian Tea Association an alle Mitgliedsbetriebe weitergegeben, beispielsweise durch Meetings und Newsletter.

Zu guter Letzt sind alle Gemeindeprogramme innerhalb der Teeplantagen mit bestehenden Regierungsprogrammen verknüpft. So ist zum Beispiel das Komitee für Wasser, Sanitäre Versorgung und Gesundheit mit der nationalen Initiative verbunden, die die Praxis der öffentlichen Stuhlentleerung beenden will. Das Bildungskomitee wiederum arbeitet mit Qualifizierungsinitiativen der lokalen Regierungen zusammen. UNICEF fungiert hier – wie so häufig – als Verbindungsstück, das die Lücke zwischen den Gemeindekomitees in den Plantagen und den Bemühungen der lokalen Regierungen schließt.

Das Bild von "zwei Blättern und einer Knospe" fasst für mich den UNICEF-Ansatz zum systemischen Wandel gut zusammen: Die Regierung ist ein Blatt und UNICEF ist das andere Blatt, aber das Herzstück eines zukunftsorientierten nachhaltigen Wandels, die Knospe – das ist die Gemeinschaft selbst.

Indien: Bettina Kaltenhäuser mit Dr. Pavalli Mansingh

Dr. Pallavi Mansingh, UNICEF-Beraterin und Expertin für Arbeitsbeziehungen und die Teeindustrie mit Bettina Kaltenhäuser in einem Teebetrieb in Dibrugarh, Nord-Assam.

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Bettina Kaltenhäuser, UNICEF Deutschland
Autor*in Bettina Kaltenhäuser

Bettina Kaltenhäuser arbeitet im Unternehmenspartnerteam und betreut dort internationale Partner wie IKEA und H&M. Ende 2018 war sie bei UNICEF in Indien und hat dort verschiedene Projekte besucht.