Fotoreportagen

Hussein (10): "Alles, was wir uns wünschen, ist Sicherheit"


von Ninja Charbonneau

Kindheit kann nicht warten, Teil 1

Was müssen Kinder im Krieg durchmachen? Wie erleben sie Vertreibung und Flucht? Wie geht es ihnen, wenn sie in der Fremde leben müssen? Lesen Sie in den kommenden Wochen unsere Blog-Serie: "Kindheit kann nicht warten – Flüchtlingskinder erzählen von ihrem Schicksal".

Hussein (10) aus Aleppo

Flüchtlingskinder erzählen: Hussein (10) aus Aleppo
© UNICEF/DT2015-32861/Annette Etges

Die Familie von Hussein (10) lebte als palästinensische Flüchtlinge in Syrien. Durch den Bürgerkrieg wurde sie ein zweites Mal vertrieben und hofft in Deutschland endlich auf Sicherheit und Frieden. Die grausamen Dinge, die Hussein und seine Brüder Hassan (7) und Mohammed (2) in Aleppo gesehen haben, gehen ihnen nicht aus dem Kopf.

Der zweijährige Mohammed kann nicht sprechen, aber sein Verhalten spricht Bände über die traumatischen Erlebnisse, die er bereits durchgemacht hat. Er ist aggressiv, schreit viel, lässt sich auf kein Spiel ein. Seine großen Brüder Hussein (10) und Hassan (7) haben dagegen ein großes Bedürfnis, zu reden.

Ich habe Hussein mit seinen beiden jüngeren Brüdern vor kurzem in einer Notunterkunft in Köln getroffen, was ein sehr besonderes Erlebnis für mich war.

Flüchtlingskinder erzählen: Hussein im Gespräch mit Ninja Charbonneau
© UNICEF/DT2015-32859/Annette Etges

Was sie erzählen, ist schrecklich. Ihr Alltag in einem Dorf bei Aleppo war von Gewalt und Entbehrung bestimmt, grausame Bilder von Tod und Zerstörung sind in ihrem Kopf.

"Wir haben überall nur Blut gesehen"

"In unserem Dorf sind fast alle Straßen zerstört", erzählt Hussein. "Einmal sind wir nach Latakia gefahren, und als wir zurückkamen, haben wir überall nur Blut gesehen. Unsere Verwandten und Freunde wurden getötet, und wir wussten nicht einmal, welche Kriegspartei uns bombardiert hatte."

Die Mutter denkt, dass ihre Kinder vieles vergessen hätten. Aber Hassan erinnert sich noch genau an den Tag, als sein ungeborener Bruder starb. "Meine Mutter hatte ein Baby im Bauch. Sie hat es verloren, nachdem ein Flugzeug unser Dorf attackiert hat. Es war am Muttertag, ich wollte meine Mutter trösten und habe ihr ein Geschenk gekauft", sagt Hassan.

Flüchtlingskinder erzählen: Hussein im Spielzelt des Aufnahmelagers
© UNICEF/DT2015-36305/Ninja Charbonneau

Jeden Tag griffen Raketen und Flugzeuge die Umgebung an. Wegen der Blockade gab es außerdem monatelang kaum Nahrungsmittel. Der Familie blieb keine andere Wahl, vor drei Monaten riskierte sie die Flucht. Seit zwei Monaten sind die Eltern mit den drei Jungen jetzt in Deutschland, momentan warten sie in einer Notunterkunft in Köln darauf, dass sie einer Gemeinde zugewiesen werden. "Alles, was wir uns wünschen, ist Sicherheit. Nur Sicherheit", sagt Hussein.

25 Tage Flucht durch Europa: "Wie Tiere behandelt"

Der 10-Jährige kann erstaunlich detailliert von der gefährlichen Reise nach Deutschland erzählen. 25 Tage waren sie unterwegs, und Hussein berichtet in allen Einzelheiten von jeder Etappe: Wie sie in Syrien mit Schwierigkeiten ein Taxi gefunden haben, mit dem sie in die Türkei gefahren sind. Wie sie im Dunkeln durch einen Wald laufen mussten, damit die Polizei sie nicht fand, und dass sie stundenlang nichts zu essen hatten.

Flüchtlingskinder erzählen: Hussein im Interview
© UNICEF/DT2015-32858/Annette Etges

Über das Mittelmeer schafften sie es erst beim zweiten Versuch. "Unser erster Versuch, nach Griechenland zu fahren, hat nicht funktioniert. Ich lag auf dem Boden des Bootes und viele Leute lagen über mir. Ich musste mich übergeben und konnte nicht mehr atmen. Das Boot war kaputt, wir haben es dann wieder verlassen und in einem Garten auf der Erde geschlafen." Beim zweiten Versuch gelang die Flucht, obwohl der Schmuggler die Gruppe einfach allein ließ und im Wasser verschwand.

Auf dem weiteren Weg von Griechenland Richtung Mazedonien seien sie "schlecht behandelt worden", sagen Hussein und sein Bruder Hassan. "Wir wurden geschlagen und wie Tiere behandelt." An der Grenze zu Ungarn wurden die Flüchtlinge nicht ins Land gelassen. Hussein erzählt von Tränengas. Zwei Tage später hat die Polizei sie nach Wien geschickt, wo sie einen Zug nach Deutschland genommen haben. "An der deutschen Grenze warteten viele Araber und Deutsche mit Geschenken." Der Zug endete in Berlin, aber die Familie wollte in den Westen Deutschlands, weil hier bereits Verwandte leben.

Hussein möchte endlich wieder zur Schule gehen

In der Notunterkunft für Flüchtlinge, einer Zeltstadt, gibt es ein Spielzelt und Hussein kann ein bisschen Deutsch lernen. Aber ihm ist langweilig, und er würde lieber in einem Haus wohnen.

Was wünschen sich Kinder zu Weihnachten: Hussein im Aufnahmelager in Köln-Chorweiler
© UNICEF/DT2015-36306/Ninja Charbonneau

Vor dem Krieg hatten sie in Syrien ein ruhiges Leben, sie hatten sogar zwei Häuser und ein Auto. Ein Haus mussten sie abgeben an Syrer, die ihr Zuhause verloren hatten. Alles, was ihnen geblieben war, haben sie verkauft, um die Flucht zu bezahlen. Noch mehr als das Schlafen im großen Gemeinschaftszelt stört Hussein, dass er nach zwei Monaten in Deutschland noch nicht zur Schule gehen kann. "Ich frage meine Mutter jeden Tag, wann ich endlich zur Schule gehen darf", sagt er.

In Aleppo, erzählt Hussein stolz, war er letztes Jahr der beste Schüler seines Jahrgangs. Seine Schule war nicht wie so viele andere zerstört. Besonders gut war er in Sprachen, Arabisch und Englisch. Jetzt wird auch Deutsch eines seiner Lieblingsfächer, sagt er. "Wie heißt du", kennt er schon, und die Zahlen bis zehn. Hussein denkt nicht, dass er jemals wieder nach Syrien zurückgehen kann. Er hat große Pläne für die Zukunft. "Ich interessiere mich für Wissenschaft, ich möchte studieren und Arzt oder Ingenieur werden."

Hussein hofft, dass er in Deutschland jetzt endlich in Frieden leben und seine Träume verwirklichen kann.

Dieser Beitrag über Hussein ist in Zusammenarbeit mit der freien Journalistin Samar Heinein entstanden. Wir bedanken uns auch bei den Johannitern für die freundliche Unterstützung.

Lesen Sie hier alle Beiträge der Serie "Kindheit kann nicht warten: Flüchtlingskinder erzählen"

Info

Die Kinder unter den Flüchtlingen werden häufig übersehen. Wir möchten ihnen eine Stimme geben und stellen Ihnen im Blog Mädchen und Jungen vor, die auf der Flucht sind. Einige von ihnen haben wir in Deutschland interviewt, andere sind in Syrien aus ihren Häusern vertrieben worden oder sind nach Jordanien oder Libanon geflohen. Egal, wo sie sind – sie sind in erster Linie Kinder.

Erfahren Sie hier mehr darüber, wie UNICEF Kindern in Syrien und seinen Nachbarländern und auf den Fluchtrouten hilft.

Ninja Charbonneau
Autor*in Ninja Charbonneau

Ninja Charbonneau ist Pressesprecherin und schreibt im Blog über Hintergründe zu aktuellen Themen.