Kinder weltweit

3.000 Nächte der Angst


von Autor Christian Schneider

Acht Jahre nach Beginn der Kämpfe in Syrien gibt es dort kein Kind mehr, das nicht von Gewalt, Tod, Vertreibung und Not betroffen ist. Der Krieg gegen die Kinder Syriens ist nicht vorbei: Im vergangenen Jahr wurden mehr Jungen und Mädchen getötet als in jedem Kriegsjahr davor!

Der Jahrestag des Syrienkrieges muss eine Mahnung sein, der leidenden Zivilbevölkerung weiter beizustehen – und das Grauen für die Kinder endlich zu beenden. Ein Appell anlässlich der internationalen Hilfskonferenz in Brüssel von UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider.

Ein Junge sitzt vor den Ruinen eines Wohnhauses.
© UNICEF/UN0264236/Sanadiki

War der 15. März 2011 für Sie ein merkenswerter Tag? Ruft dieses Datum – ein Dienstag im Frühling - ein besonderes Ereignis wach, mögliche Geburtstage oder den Hochzeitstag einmal außen vor gelassen? Zugegeben, es ist lange her: fast 3.000 Tage und Nächte. Man erinnert sich kaum.

Für Millionen Menschen im kriegsverwüsteten Syrien, für weitere Millionen, die sich aus den Kampfzonen in ein Nachbarland oder Richtung Europa gerettet haben, ist der 15. März 2011 der dunkle Wendepunkt in ihrem Leben. Es ist der Tag, an dem das alte, vielfältige Syrien begann, sich nach zunächst friedlichen Demonstrationen unaufhaltsam in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Für die junge Generation gingen mit diesem Tag Kindheit und Jugend verloren.

Eine Kindheit im Krieg

Acht Jahre Krieg in Syrien, das sind fast 3.000 Tage und 3.000 Nächte voller Angst, voller Ungewissheit, ob Verwandte oder Nachbarn den Bombenangriff oder den Mörserbeschuss überlebt haben, voller Sorge, ob der Zeitpunkt der Flucht gekommen ist. 3.000 Tage und grausame Nächte, die sich tief in die Seelen jener Jungen und Mädchen gefressen haben, deren Schicksal es ist, in diesem Abgrund der Gewalt auf die Welt zu kommen. Ein Syrien, in dem es auch im achten Kriegsjahr kaum Rücksicht gegenüber den besonders schutzbedürftigen, den vor allem absolut unschuldigen Menschen in Syrien gibt: den Kindern.

Ein UNICEF Mitarbeiter klärt drei Kinder über die Risiken in der vom Krieg zerstörten Umgebung auf.
© UNICEF/UN055815/Al-Issa

Unsere UNICEF-Mitarbeiter in Syrien haben nicht nur die Aufgabe, unter allen - auch unter den gefährlichsten - Umständen weiter zu helfen. Sie dokumentieren zudem auch die fortdauernden schweren Menschenrechtsverletzungen gegenüber Kindern, auf allen Seiten der vielen Fronten. Danach sind für das Jahr 2018 insgesamt 1.106 Tötungen von Kindern verifiziert worden – mehr als in jedem anderen Jahr seit Beginn des Krieges! Es ist klar, dass die tatsächliche Zahl der Opfer noch viel höher liegt. 434 Kinder wurden durch Blindgänger schwer verletzt. Jeder dritte dieser Zwischenfälle endete tödlich. UNICEF geht davon aus, dass in der Umgebung von etwa 3,3 Millionen Kindern in Syrien Millionen weitere nicht explodierte Geschosse und Minen lauern.

Nie zuvor so viele Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser

Wenn es auch richtig ist, dass in weiten Regionen nicht mehr gekämpft wird, so ist genauso wahr, dass nie zuvor so viele Schulen und Krankenhäuser angegriffen wurden wie 2018. Im zurückliegenden Jahr wurden, auch das haben die Vereinten Nationen dokumentiert, mehr als 800 Kinder für den Kampf rekrutiert. Die meisten wurden nach den UNICEF vorliegenden Informationen direkt in den Fronteinsatz geschickt.

Zigtausende harren weiter in Notlagern aus

Syrien, das sind heute mindestens zwei sehr unterschiedliche Wirklichkeiten für Kinder: Mein Kollege Fran Equiza, der den UNICEF-Einsatz leitet, berichtet einerseits von den Hilfskonvois zu verzweifelten Menschen, die sich nach Jahren unter Beschuss und unter dem Regime des IS aufgerieben und verängstigt in Notlager wie das Camp Al-Hol im Nordosten flüchten. Sie sind aus dem Osten der Region Deir ez Zor, wo der IS eine seiner vielleicht letzten Schlachten kämpft.

Über 50.000 Menschen drängen sich zurzeit in der Kälte und Nässe unter furchtbaren Bedingungen, die allermeisten sind Frauen und Kinder. Jeder vierte Bewohner in Al Hol ist ein Kind unter fünf Jahren. Seit Jahresbeginn, sagt mir der Kollege, sind mindestens 50 Kleinkinder auf dem Weg hierher oder gleich nach ihrer Ankunft gestorben. Tausende sind noch unterwegs.

Zwei Kinder mit verstaubten Gesichtern in einer Gruppe von Flüchtlingen.
© UNICEF/UN0277724/Souleiman

Die Konfliktlandschaft in Syrien bleibt unsicher. Bei einer erneuten Eskalation könnten es weitere Hunderttausende sein, die Zuflucht in diesem und weiteren Notlagern im Nordosten und Südwesten suchen. Schon jetzt ist UNICEF täglich im Camp Al Hol, um mit seinen Partnern die humanitäre Hilfe für die Kinder auszubauen. Mobile Gesundheitsteams leisten rund um die Uhr medizinische Hilfe und versorgen schwer mangelernährte Kinder.

Fast zwölf Millionen Menschen brauchen weiter Hilfe

Auch wenn diese extreme Situation den meisten Syrern inzwischen erspart bleibt, auch wenn keine eingekesselten Städte mehr belagert werden und in den meisten Landesteilen das Grauen der Bombardements aufgehört hat: Die andere, zweite Wirklichkeit ist die der konstanten Not. Es ist das Syrien, in dem fast zwölf Millionen Menschen ohne humanitäre Hilfe kaum wissen, wie sie die nächsten Wochen überstehen sollen. Es ist die Wirklichkeit der fast drei Millionen Kinder in Syrien und den Nachbarländern, die seit Jahren darauf warten, endlich eine Schule zu besuchen.

Fast die Hälfte der Kinder, die ohne Bildung aufwuchsen, sind junge Leute zwischen 15 und 17 Jahren. Acht Jahre Krieg haben aus Hunderttausenden Schülern, die sie nie sein durften, deprimierte Jugendliche und junge Erwachsene gemacht, die vielleicht nie die Chance haben, zu lernen und für sich und ihre Familien etwas aufzubauen.

Nach den Häusern zerbricht der soziale Zusammenhalt

In diesem zweiten Syrien abseits der letzten Kampfgebiete sind es nicht mehr Häuser und öffentliche Gebäude, die unter Bomben einstürzen. Was zusammenbricht, ist der soziale Zusammenhalt einer Gesellschaft, die von Gewalt und Trauer, von Hass und Rachegefühlen geprägt ist. Die breite Mehrheit der Bevölkerung steckt außerdem in der Umklammerung tiefer Armut: Zwei Drittel der Menschen müssen mit umgerechnet gut zwei US-Dollar am Tag über die Runden kommen. UNICEF beobachtet, dass immer mehr Kinder arbeiten müssen und mehr Eltern ihre minderjährigen Töchter verheiraten, damit die Familien entlastet und die Mädchen versorgt sind. Diese Not zersetzt die Hoffnung der Menschen auf eine Zukunft mit anderen Mitteln als der brutale Krieg. Aber auch sie ergreift das ganze Land.

In diesem Syrien ist jedes Kind, das wir in eine renovierte Notschule bringen, ein Beitrag zum Frieden. Jeder Junge und jedes Mädchen, das wir mit Spielangeboten und psychosozialer Hilfe erreichen, ist ein Hoffnungsträger für die Rückkehr zu einer friedlichen, toleranten syrischen Gesellschaft. Sie sind die einzigen Hoffnungsträger, die das Land hat.

Mädchen malen konzentriert an einem Tisch.
© UNICEF/UN0263715/Herwig

Aus einer verlorenen Generation eine Generation Zukunft machen

Damit dies gelingt, müssen die Regierungen, die dieser Tage in Brüssel zur abermaligen Geberkonferenz für Syrien zusammenkommen, planbare, langfristige Hilfe ermöglichen. Die Zivilbevölkerung, insbesondere die Jugend, braucht im Syrien des Jahres 2019 Hilfe, die über die Bedürfnisse des reinen Überlebens hinausreicht. Nur, wenn wir Schulen, Kindergärten, Spielplätze, Jugendzentren, sprich: Einrichtungen für Kinder und Jugendliche aufbauen und sie zu sicheren Orten machen, kann die junge Generation eine Generation Zukunft werden, und keine verlorene. Das ist das Ausrufezeichen nach 3.000 Tagen und Nächten der Gewalt und der Angst!

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.