© UNICEF/UNI334456/AlmatarAhmad und Saad tragen ein Hygiene-Kit.
Kinder weltweit

Keine Kindheit, keine Atempause

Nach fast einem Jahrzehnt der Gewalt ist die Situation der Kinder in Syrien heute schlimmer als je zuvor.


von Autor Christian Schneider

Entschuldigen Sie die persönliche Frage: Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an die letzten zehn Jahre denken? Haben Sie die Kinder aufwachsen und erwachsen werden sehen, so wie ich? Gab es schwere Zeiten, Krankheit oder traurige Verluste in Familie oder Freundeskreis? Oder erinnern Sie sich an freudestrahlende Momente: schöne Feste, persönliche Erfolge? In einem Jahrzehnt passiert viel. Vor allem für Kinder, denn eine Kindheit dauert ja nur knapp zwei Dekaden, dann ist sie, unwiederbringlich, vorbei.

Ein Junge schaut aus einem Zelt .

Syrien 2021: Hartes Winterwetter und Stürme haben Kinder und ihre Familien im Nordwesten Syriens schwer getroffen.

© UNICEF/UN0405681/Akacha

Aufwachsen zwischen Ruinen, Gewalt und Not

Was geschieht mit Kindern und Jugendlichen, wenn sie zehn Jahre lang nichts als Krieg, Flucht und Vertreibung, Todesangst, extreme Not erleben? In Syrien leben heute knapp fünf Millionen Kinder, die seit dem Beginn des Krieges geboren wurden. Das ist am 15. März zehn Jahre her. Während für uns in Zeiten der Pandemie und mit dem Ende der schwersten Kämpfe Syrien leise vom Radar verschwindet, wachsen die Kinder dort zwischen den Ruinen und inmitten einer Krise auf, die ihnen keine Atempause gönnt. Im Gegenteil: Ihre Lebenssituation hat sich im letzten Jahr und über den zehnten Kriegswinter noch verschärft – und der Krieg ist nicht vorbei.

Fast 12.000 Jungen und Mädchen wurden seit 2011 getötet oder verletzt. Das sind nur die von den Vereinten Nationen dokumentierten grauenhaften Zahlen, tatsächlich starben gewiss viel mehr Kinder. Allein 2020 kamen noch mehr als 500 Kinder durch die Gewalt der Konfliktparteien ums Leben, vor allem im weiter umkämpften Nordwesten. Auch dort, wo Ruhe und Alltagsleben zurückkehren, bedrohen weiter Mörsereinschläge, vor allem aber Minen und Blindgänger die Kinder, wenn sie spielen oder nach Verwertbarem suchen.

Neun von zehn Kindern in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen

Besonders leiden die syrischen Kinder heute, nach einer Dekade der Gewalt, unter Hunger und Hoffnungslosigkeit. Nie zuvor war die Ernährungssituation so dramatisch wie jetzt. Mehr als eine halbe Million Kinder bleiben aufgrund chronischer Mangelernährung in ihrer Entwicklung zurück, im Norden ist inzwischen eines von drei mangelernährt. Die Zahl der Kinder, die humanitäre Hilfe brauchen, stieg in einem Jahr weiter stark an auf jetzt sechs Millionen – das entspricht fast der Hälfte aller in Deutschland lebenden Kinder. Wenn geschwächte Kinder krank werden, ist Hilfe knapp, denn nur noch jede zweite Gesundheitseinrichtung funktioniert richtig.


Die Geschichten der Kinder, so berichtete ein Kollege aus Damaskus letzter Tage, verändern sich. Während Kinder in Aleppo, Homs, Hama und anderen schwer verwüsteten Städten vor zwei, drei Jahren von Kriegserlebnissen erzählten, von ihrer Angst, von Bombenexplosionen und Angriffen auf ihre Schule, leiden sie jetzt unter dem Stress des Alltags in Armut. Und unter dem völligen Fehlen einer Perspektive. Wen wundert das in einem Land, in dem fast 2,5 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen und ein Drittel aller Schulen zerstört oder beschädigt sind. Viele ältere Kinder und Jugendliche hatten jahrelang keinen Unterricht, oder sie hatten nie die Chance.

Ahmad und Saad tragen ein Hygiene-Kit.

Ahmad (links), 7, und Saad, 5, harren in einem Flüchtlingscamp im Norden Aleppos aus. Hier helfen sie ihrer Mutter, ein Hygiene-Kit mit Seife und anderen Utensilien zum Schutz vor Covid-19 zu tragen.

© UNICEF/UNI334456/Almatar

Die syrischen Familien haben all dem nach einem Jahrzehnt Ausnahmezustand nichts mehr entgegen zu setzen. Zwei Drittel sind zu arm, um ihre wichtigsten Bedürfnisse zu decken. Allein in 2020 stieg die Zahl der Menschen, die nicht genug Nahrung haben, um 42 Prozent. Ein Ende der Not ist nicht in Sicht. Seit Ende 2019 verteuerte sich der Warenkorb der wichtigsten Lebensmittel um unvorstellbare 236 Prozent. Was bleibt: Eltern verzichten auf Essen, um ihre Kinder noch irgendwie durchzubringen. Und sie schicken ihre Kinder arbeiten, wenn es denn kleine Jobs und Geld gibt. In Aufholklassen, die UNICEF organisiert, berichten teilweise neun von zehn Kindern, dass sie in Werkstätten arbeiten müssen, als Schuhmacher oder in der Textilproduktion. Gleichzeitig nehmen frühe Heiraten zu. Dann sind die Kinder wenigstens versorgt, denken sich die verzweifelten Eltern.

Kinder brauchen Perspektiven und Hoffnung

Nach dem nicht enden wollenden toxischen Stress des Krieges gibt es für diese Jungen und Mädchen noch immer keine Erholung in einem aufblühenden Frieden, sondern pure Not. Das schlägt sich in ihrer seelischen Verfassung nieder. Unser UNICEF-Team berichtet von einer Verdoppelung der Zahl jener Kinder im vergangenen Jahr, die Zeichen psychosozialer Belastung zeigen. Systematische Erhebungen über die Auswirkungen fehlen bisher. Aber fest steht, dass die seelische Belastung lebenslange Folgen haben kann.

All diese Kinder und Jugendlichen in Syrien bilden eine Generation, die noch nicht verloren ist, die sich vor allem nicht selbst verloren geben will. Sie sind die Generation, die das Schicksal des Landes bald gestalten soll und muss. Nach zehn Jahren Krieg beginnt für die Kinder und Jugendlichen in Syrien ein neues, entscheidendes Jahrzehnt. Sie brauchen dafür die Chance, endlich lernen zu dürfen und ihr Leben in Frieden zu gestalten. Sie brauchen eine Atempause, endlich.

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.