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Meinung

Ein Jahr nach dem Umsturz in Syrien: Junge Generation zwischen Ruinen und Hoffnung

Ein Kommentar von Christian Schneider, Geschäftsführer von UNICEF Deutschland.


von Christian Schneider

„Alles ist besser als der Krieg“, sagte mir eine Mutter in Latamneh, Syrien, bei einem Besuch vor wenigen Wochen, der mich von Damaskus über Homs nach Aleppo führte. Aber ist die Abwesenheit von Krieg gleichbedeutend mit Frieden und Sicherheit?

Ich traf die Frau in einer Höhle, die ihre Familie in den Fels gehauen hatte, um sich vor immer neuen Angriffen zu schützen. 2019 flohen sie nach Idlib, nachdem der Vater schwer verletzt wurde. Nun sind sie zurück – doch ihr Zuhause liegt wie fast der ganze Ort in Ruinen. Zwischen den Trümmern lauern Blindgänger, teuflisches Erbe des Krieges. Erst kürzlich wurde ihr Sohn Khaled verletzt. Er ist eines von vielen jungen Opfern – seit Jahresbeginn sind nach UNICEF-Schätzung mehr als 150 Kinder durch die Explosion von Minen und anderen Sprengkörpern getötet worden.

Syrien: Familie sitzt in einem selbstgebauten Bunker.

Die Höhle diente der Familie während des Bürgerkriegs als Schutz vor den Bomben. Nach ihrer Rückkehr bewohnen sie wieder die zwei Räume der Höhle – denn von ihrem Heimatort steht nichts mehr.

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Der Krieg ist nach über 13 Jahren der entsetzlichen Gewalt endlich vorbei. Ein Ende der humanitären Krise ist für Millionen Kinder und ihre Familien in Syrien aber weit entfernt. Ein Jahr nach dem Machtwechsel am 8. Dezember 2024 steht Syrien an einem kritischen Punkt. Die Hoffnung auf einen friedlichen Neuanfang ist fragil: Sie bröckelt mit jedem gewaltsamen Zwischenfall und mit jedem Tag, an dem das Leben in Frieden doch nur ein Kampf um das Überleben ist.

Das darf nicht wundern angesichts der katastrophalen Zerstörung der wesentlichen Infrastruktur, aber auch des sozialen Zusammenlebens über die lange Strecke des Krieges. UNICEF geht davon aus, dass mehr als 16 Millionen Menschen weiterhin humanitäre Hilfe benötigen, unter ihnen über sieben Millionen Kinder.

Kindheit in Syrien bleibt von Armut und Entbehrungen geprägt. Eines von vier Kindern ist aufgrund chronischer Mangelernährung in der Entwicklung zurückgeblieben, mehr als jedes zehnte lebensbedrohlich geschwächt. Es ist zu befürchten, dass die extreme Armut bald auf mehr als ein Drittel der Bevölkerung steigt. Während die Aufhebung der Sanktionen erst Wirkung zeigen muss, treibt die Inflation die Preise in Höhen, die ausreichende Nahrung, Medikamente und vieles mehr unerreichbar machen.

Der Krieg ist für die allermeisten Familien von einem neuen Ausnahmezustand abgelöst worden. Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum und Strom. Viele müssen ihr Trinkwasser teuer bei privaten Anbietern kaufen. Und das beschreibt nur die Alltagsnot: Die seelischen Wunden der Kinder, ihre Ängste und Alpträume, sitzen tief. Fast ein Drittel der Kinder leidet unter psychischem Stress. UNICEF hilft Kindern wie Erwachsenen in Zusammenarbeit mit syrischen Organisationen, mit ihren Emotionen und Seelenzuständen umgehen zu lernen.

Syrien: Ein komplett zerstörtes Gebäude.

Ein Kind läuft an zerstörten Häusern im syrischen Homs vorbei. Rund 40 Prozent der Gebäude in Homs sind zerstört oder beschädigt.

© UNICEF/UNI883276/Charbonneau

Rund 40 Prozent der Schulen in Syrien – etwa 8.000 – müssen repariert oder komplett neu aufgebaut werden. Für die Kinder sind gerade die Schulen Orte, an denen endlich Sicherheit, Geborgenheit und ein Stück Zukunft winken. Ihre Eltern knüpfen all ihre Hoffnungen an den Schulbesuch ihrer Kinder. Diese haben oft in ihrem Leben nichts kennengelernt als Angriffe, Vertreibung oder das Leben auf der Flucht im Ausland – wie zum Beispiel das 13-jährige Mädchen Sondos und der ebenfalls 13-jährige Junge Ibrahim, die ich in einem Sozialzentrum in Homs traf.

Kinder Syrien: Christian Schneider im Gespräch mit Ibrahim (13).

Christian Schneider im Gespräch mit Ibrahim (13) bei einem Besuch in Homs/Syrien im Oktober 2025.

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Die beiden gehören zu den mehr als eine Million Syrerinnen und Syrern, die aus dem Libanon, aus Jordanien und der Türkei in ihre geschundene Heimat zurückgekehrt sind. Hinzu kommen rund zwei Millionen Menschen, die im eigenen Land vertrieben waren und nun nach Jahren in Camps oder Städten wie Idlib in zu weiten Teilen verwüstete Städte ziehen. Was bedeutet es für ein so sehr vom Krieg gezeichnetes Land, binnen eines Jahres drei Millionen Menschen ein neues Zuhause bieten zu müssen?

Während sich die Debatte in Berlin auf die Frage der raschen Rückkehr in dieses Syrien konzentriert, gilt es, in Aleppo, Homs oder Hama die Hoffnung mit greifbaren Fortschritten zu stützen. Das beginnt mit der verlässlichen Finanzierung humanitärer Hilfe für jene, die von einem frohen Neubeginn weit entfernt sind. Zudem müssen internationale Geber, darunter die Bundesregierung als zentraler Akteur, die Stabilisierung durch Investitionen in die Infrastruktur fördern: durch den Wiederaufbau der dysfunktionalen Gesundheitseinrichtungen, die Schaffung von Wohnungen, die an Wasserversorgung und Kanalisation angeschlossen sind, sowie den Bau von Schulen.

In den geschrumpften Budgets der Bundesregierung sollten das zentrale Investitionen sein. Für die junge Generation, an der so viele Hoffnungen hängen, sind reparierte Wasserleitungen und Schulen weit mehr als Symbole für den Neuanfang. Sie bilden die Grundlage, um in der Heimat eine bessere, eine friedlichere Zukunft mit aufbauen zu können. Im Heute gilt erst einmal, was mir die Mutter in Latamneh sagte: „Alles ist besser als der Krieg.“

Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.